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Der Bundestag kommt im alten Reichstag zusammen.

© Gregor Fischer/dpa

Der neue Bundestag nach der Wahl: Groß, größer - am größten?

598 Abgeordnete - das ist die Mindeststärke des Bundestags. Nach der Wahl am 24. September könnten es einige Dutzend Parlamentarier mehr sein.

Sicher ist es nicht. Aber es wird immer wahrscheinlicher. Der Bundestag, der am 24. September gewählt wird, dürfte größer sein als das scheidende Parlament. Und wenn der leichte Trend sich verstärkt, dass die Union noch abrutscht, die SPD stagniert und die vier kleinen Parteien, die aller Erwartung nach einziehen werden, noch zulegen – dann könnte es der bisher größte Bundestag werden. Legt man die Ergebnisse des aktuellen Politbarometers vom vorigen Freitag zugrunde, dann ergibt sich nach Berechnungen von „Mandatsrechner.de“ eine Gesamtzahl von 665 Abgeordneten. Zum Vergleich: 2013 zogen 631 Abgeordnete ins Parlament ein. Der Politikwissenschaftler Joachim Behnke von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen kommt auf der Basis aller aktuellen Umfrageergebnisse auf eine wahrscheinliche Parlamentsgröße zwischen 646 und 688 Abgeordneten. „Schon kleine Bewegungen in den Umfragen können aber größere Veränderungen in der Sitzzahl bedeuten“, gibt Behnke zu bedenken. Insofern lässt sich auch nicht völlig ausschließen, dass nahezu 700 Mandate oder mehr zusammenkommen. Die neueste Emnid-Umfrage ergibt eine Abgeordnetenzahl von 653. Forsa ergab zuletzt eine Parlamentsstärke von 660 Mandaten. Bei der Insa-Erhebung vom Montag kamen 672 Sitze zusammen - so viele waren es auch beim bisher größten Bundestag 1994, als allerdings die Mindeststärke noch bei 656 Sitzen lag. Die Mindestgröße des Bundestags liegt heute, nach der Reform zur Wahl 2002, bei 598 Sitzen.

Der Grund für die möglicherweise sehr hohe Abgeordnetenzahl und auch für die Unwägbarkeit der Mandatszahl bis zum Wahlabend ist das Wahlsystem, das 2013 seinen ersten Praxistest hatte. In ihm gibt es weiterhin Überhangmandate, die sich ergeben, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate bekommt, als ihr insgesamt nach dem Parteienproporz dort an Abgeordneten zustünde. Diese Überhänge werden seither ausgeglichen durch Zusatzmandate, bis der bundesweite Proporz erreicht ist. Damit gibt es zwar keine Verzerrungen mehr. Aber der Bundestag ist, was die Zahl der Sitze betrifft, eben nach oben offen.

Wie kommt es zu Überhängen?

Ganz einfach ist das System nicht, vor allem wegen des zweistufigen Verfahrens der Sitzzuteilung. Im ersten Schritt wird auf Länderebene zugeteilt – jedes Bundesland hat ein Sitzkontingent, und das Landesergebnis der Parteien (nach dem Ausschluss der Parteien, die bundesweit unter fünf Prozent blieben), wird proportional auf dieses Kontingent verteilt. Die so erreichten Sitze werden allen Parteien garantiert – es ist die Mindestsitzzahl. Zu denen gehören aber auch die Überhänge. Im zweiten Schritt wird dann bundesweit gerechnet, die Mandate werden neu auf die Länder verteilt – und wenn die einzelnen Überhänge dabei nicht von selbst verschwinden und die garantierte Sitzzahl einer Partei über dem bundesweiten Proporz liegt, wird ausgeglichen.

Bei der Wahl am 24. September „produziert“ laut Behnke mit hoher Wahrscheinlichkeit die CDU Überhänge – die CSU wohl nicht, die SPD allenfalls in geringem Umfang (in Hamburg). Diese Überhänge der CDU kommen aus Baden- Württemberg, allen Ost-Ländern außer Berlin, dem Saarland, Rheinland-Pfalz, Hessen und möglicherweise auch Niedersachsen. Die Zahl der Überhangmandate wird nach den aktuellen Umfragen bei 20 bis 25 liegen, was zu 40 bis 50 Ausgleichsmandaten führen würde.

Zusammensetzung des Bundestags nach der Politbarometer-Projektion vom 8.9.2017.
Zusammensetzung des Bundestags nach der Politbarometer-Projektion vom 8.9.2017.

© Gitta Pieper-Meyer/Tsp

Dass die CDU den Ausgleichsbedarf auslöst, hat damit zu tun, dass sie noch mehr als in früheren Wahlen in den Wahlkreisen die Sieger stellen wird, trotz eines Ergebnisses unter 40 Prozent. Laut Mandatsrechner gewinnt sie 256 der 299 Direktmandate und damit schon einen etwas höheren Anteil an der Mindestsitzzahl von 598, als ihr mit 38 Prozent der Zweitstimmen zustünde. Das ist der auszugleichende Überhang. Man kann es freilich auch an der Schwäche der SPD festmachen, die – rechnet man mit den aktuellen Politbarometer-Zahlen – nur noch mit 37 Direktmandaten rechnen kann. Die Linke dürfte auf fünf Direktmandate kommen, die Grünen auf eines in Berlin. Damit rücken (mit Ausgleichsmandaten) 266 Christdemokraten und Christsoziale in den Bundestag ein, 154 Sozialdemokraten, je 63 Abgeordnete für Linke, FDP und AfD sowie 56 Grüne.

Neulingsfraktion AfD, viele Unerfahrene bei der FDP

Mit sechs Fraktionen wird dieser Bundestag ein anderes Gesicht haben als der scheidende. Nach einer Mandatsrechner- Auswertung werden FDP und AfD mit vielen unerfahrenen Abgeordneten vertreten sein. Bei der FDP saßen immerhin 18 Abgeordnete schon vor der Zwangspause einmal im Bundestag. Parteiveteran Hermann-Otto Solms kann sogar auf sechs Wahlperioden zurückblicken. Sechs Freie Demokraten, die mutmaßlich ein Mandat bekommen, sitzen derzeit in einem Landtag, zwei im EU-Parlament. Bei der AfD – allesamt Bundestagsneulinge – hätten sieben Abgeordnete Landtagserfahrung, und Beatrix von Storch wandert aus Straßburg zu. Apropos Neulinge: Für die Union werden nach den Mandatsrechner-Daten 53 Abgeordnete erstmals in den Bundestag einziehen, für die SPD 24 Abgeordnete. Die Linken werden 17 „Neue“ haben, die Grünen elf.

Und einige Köpfe wird man wohl vermissen. Insgesamt 102 Abgeordnete treten jetzt zur Wahl nicht mehr an: 49 bei CDU und CSU, 32 bei den Sozialdemokraten, zwölf bei der Linken und neun bei den Grünen. Es sind nicht wenige Prominente darunter. Bei der Union zum Beispiel: Bundestagspräsident Norbert Lammert, Ex-Verteidigungsminister Franz Josef Jung und CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt, die vermutlich neue Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes wird. Und natürlich Wolfgang Bosbach, der seine letzte Wahlperiode als Alleinunterhalter irgendwo zwischen Fraktionslinie und Privatopposition gestaltet hat. Immerhin: Seine latente Unzufriedenheit führte nicht dazu, seiner Partei davonzulaufen wie bei Erika Steinbach, die mittlerweile für die AfD wirbt, aber nicht für sie antritt. Der einstige sachsen- anhaltische Ministerpräsident Christoph Bergner geht in politischen Ruhestand, die Staatsministerin Maria Böhmer hört auf, auch der streitbare Mittelstandpolitiker Michael Fuchs. Die CSU verliert einen eigenwilligen Kopf – den Umweltpolitiker Josef Göppel. Und ihren Bundestagsvizepräsidenten Johannes Singhammer. Mit Heinz Riesenhubers Adieu nach 41 Jahren wird das Fähnlein der Fliegen-Träger noch kleiner, wenn es denn überhaupt noch welche gibt.

Die SPD muss künftig ohne Edelgard Bulmahn auskommen, einst für das Bildungsministerium verantwortlich, und auch ohne Brigitte Zypries, die zum Abschluss ihrer Karriere noch einige Monate das Wirtschaftsressort führte. Der Außenpolitiker Gernot Erler macht ebenso Schluss wie der Verteidigungsexperte Rainer Arnold und der Finanzfachmann Joachim Poß. Nur diese fünf zusammen nehmen 128 Jahre Parlamentserfahrung mit in die Rente. Fünf „Ur-Grüne“ aus der Gründerzeit der Partei nehmen Abschied: Hans Christian Ströbele, Marieluise Beck, Volker Beck, Bärbel Höhn und Tom Koenigs. Bei der Linken wird man künftig vergeblich nach dem Außenpolitiker Jan van Aken suchen und dem Haushaltspolitiker Roland Claus. Aus Berlin fehlt Halina Wawzyniak – die Expertin für das Wahlrecht. Ausgerechnet. Denn wenn der Bundestag tatsächlich deutlich über seine Mindestzahl hinausschießt, wird die Debatte über eine Reform schnell wieder aufleben.

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