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Politik: Der Regen nach dem Beben: Jetzt versinken die Notlager in der Türkei im Schlamm

Halim Atli reckt den Hals aus seinem aus Bettlaken improvisierten Zelt im Istanbuler Stadtteil Avcilar und blickt an dem Hochhaus empor, in dem er bis letzte Woche Dienstag um drei Uhr morgens gelebt hat. "Wir warten auf die Entwarnung der Behörden", sagt er, "wenn die Gefahr vorbei ist, wollen wir wieder nach Hause.

Halim Atli reckt den Hals aus seinem aus Bettlaken improvisierten Zelt im Istanbuler Stadtteil Avcilar und blickt an dem Hochhaus empor, in dem er bis letzte Woche Dienstag um drei Uhr morgens gelebt hat. "Wir warten auf die Entwarnung der Behörden", sagt er, "wenn die Gefahr vorbei ist, wollen wir wieder nach Hause." Atli wird vergebens warten. Der Stadtteil ist auf einer tektonischen Verwerfungslinie errichtet und wird nie vor Erdbeben sicher sein. Zwar steht Atlis Haus noch aufrecht da, im Gegensatz zu den benachbarten Trümmerhaufen und vielen gefährlich schief hängenden Häusern in der Straße. Doch wenn strukturelle Schäden daran festgestellt werden, wird auch dieser Wohnblock abgerissen werden, und Atli wird mitsamt seiner Frau und den beiden Kindern zum neuen Heer der Obdachlosen gehören.

Eine Woche lang standen die Toten, die Verletzten und die Verschütteten im Mittelpunkt der Katastrophenhilfe im türkischen Erdbebengebiet. Geduldig haben die Obdachlosen unter ihren Planen und Pappkartons ausgeharrt, während Rettungsmannschaften die Ruinen durchkämmten, Feldlazarette für die Zehntausenden Verletzten errichtet wurden und die Bagger unablässig neue Gräber für die Toten aushoben. Den Ernst der eigenen Lage haben viele unter diesen Umständen noch gar nicht erfassen können. Doch am Montag setzte der Regen ein, verwandelte die Notlager in eine Schlammgrube und warf mit Macht die Frage auf: Was soll aus den Hunderttausenden werden, die alles verloren haben?

Die Heimatlosen sind ungezählt. Etwa 60 000 Häuser hat das Erdbeben nach Angaben der Regierung so schwer beschädigt, dass sie nie wieder bewohnbar sein werden. Die meisten zerstörten Gebäude waren Mehrfamilienhäuser und größere Wohnblocks, die Obdachlosenzahl könnte daher weit über einer Million liegen. Oft ist aber noch nicht bekannt, wer überhaupt überlebt hat, wer noch unter den Trümmern liegt und wer schon andernorts in einem Zeltlager oder Krankenhaus untergebracht ist.

"Ich suche Ayse", sagt eine zitternde Frauenstimme in der Such-Hotline eines Fernsehsenders. "Wenn sie lebt, soll sie bitte, bitte unter folgender Nummer anrufen." Zwischen den vielen Todesanzeigen in den Zeitungen finden sich ähnliche Aufrufe. "Ali Türker soll verletzt geborgen worden sein, doch er ist in keinem Krankenhaus zu finden", heißt es unter dem Foto eines jungen Mannes. "Wer etwas über seinen Verbleib weiß, wird dringend gebeten, uns davon zu unterrichten." Die Zeitungen drucken täglich seitenweise Listen mit den Namen der Toten, die schon identifiziert sind. Von vielen Opfern konnten aber nur Fotos gemacht werden, bevor sie hastig beerdigt wurden. Ihre Verwandten werden sich noch lange Hoffnungen machen.

Besonders hilflos sind die vielen Kinder, die alleine durch die verwüsteten Straßen irren. Hunderte hilfsbereiter Landsleute haben sich schon gemeldet, um ein Waisenkind zu adoptieren. Doch oft ist gar nicht zu klären, ob ein Kind tatsächlich elternlos ist oder sich nur verirrt hat, besonders wenn es seinen Familiennamen oder seine bisherige Adresse nicht nennen kann. Der Kinderschutzverein von Izmit hat Alarm geschlagen, "Kinderdiebe" seien unterwegs, Menschenhändler gäben sich als Vertreter der Adoptionsbehörden aus und sammelten verlassene Kinder ein, um sie später zu verkaufen. Das ist weniger unwahrscheinlich als es klingt, denn auf dem türkischen Land werden noch immer Minderjährige als billige Arbeitskräfte angeboten.

Halim Atli hat immerhin seine Familie um sich, wenn auch nicht viel mehr. Einige Deccen und etwas Küchengerät hat er sich aus der Wohnung geholt, gegen den dringenden Rat der Behörden, auf den Besuch der Bauinspektion zu warten und bis dahin das Gebäude nicht zu betreten. Doch bis die Inspektoren auftauchen, kann es noch lange dauern. Knapp eine Woche nach dem Beben fressen sich die Bagger und Raupen gerade erst durch die Trümmerhaufen jener Gebäude hindurch, die bei dem Erdstoß völlig zusammengesackt waren. Alleine in Avcilar könnten aber Hunderte weiterer Häuser jeden Moment zusammenbrechen. Bis die Behörden sich um das Haus von Halim Atli kümmern können, dürften Wochen, wenn nicht Monate vergehen.

Es weiß jedoch keiner, ob die Inspektoren überhaupt noch kommen. Denn Avcilar ist auf Sand gebaut, und die Regierung überlegt nun, die verwüsteten Orte ganz aufzugeben und die Städte abseits der Verwerfungslinie neu zu errichten. In Adapazari rückte die Armee schon mit schwerem Räumgerät an, um die Trümmerfelder abzutragen und die Ruinen abzureißen. Doch die meisten Menschen harren in ihren zertrümmerten und verschlammten Stadtvierteln aus. Wie Halim Atli bringen viele es nicht fertig, sich von den zerstörten Überresten ihres Lebens zu trennen, oder sie wissen einfach nicht, wohin - und haben außerdem auch weder die Transportmittel noch das Fahrgeld, um aus der verwüsteten und verpesteten Region wegzukommen.

Trotzdem können die Opfer nicht bleiben, wo sie sind. Obwohl sie im strömenden Regen versucht haben, Abflussgräben zu buddeln, ist das Wasser am Montag bereits in die armseligen Notlager gestiegen. Kot, Unrat und Leichenwasser hat es durch die Straßen geschwemmt. Während der Rote Halbmond mit Unterstützung ausländischer Organisationen hastig Zeltstädte außerhalb der Stadtgrenzen errichtet, hat die Regierung den Befehl erlassen, alle nur irgend verfügbaren Behausungen für die Obdachlosen herzurichten. Sie sollen in Studentenwohnheimen, regierungseigenen Gästehäusern und Sporthallen unterkommen. Die Behörden haben die wohlhabenderen Türken aufgerufen, ihre Ferienhäuser an der Küste zur Verfügung zu stellen.

Halim Atli will nicht in irgendein Ferienhaus. Wie Abertausende seiner Landsleute bleibt er zehn Meter von seinem früheren Hause entfernt im Regen sitzen und wartet darauf, die Scherben zusammenzukehren und ganz von vorn anzufangen.

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