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Der Sandalenkrieg: Mit Rebellen in den Bergen von Libyen

Sie haben Gaddafi schon immer gehasst. Und anders als in Bengasi verläuft der Aufstand in den Hügeln nahe Tripolis sehr erfolgreich. "Die Berge kämpfen für uns", sagt ein Berberrebell. Eine Reportage.

Die hier auf der Terrasse gesessen haben, priesen für gewöhnlich die Aussicht. Bis ans Ende der Welt, schien es, könne man von hier oben aus sehen. Kilometerweit erstreckt sich vor dem Nafusagebirge das hügelige Land, braun und grün, dazwischen, als graues Asphaltband die Straße und obendrüber der blaue Himmel.

Die hier saßen, waren Gäste des Hotels Jefren, einer Villa im italienischen Stil, erbaut in den 1920er Jahren, die sich die westlichen Berge Libyens anschauen wollten, die Welt der Berber, die hier leben, den 200 Kilometer langen Tafelberg, der bis zur Grenze nach Tunesien reicht, die Wüstenschlösser oder die Stadt Jefren selbst, eine Sehenswürdigkeit in der Region. Das war sie jedenfalls bis zum Frühjahr. Im April begann ihr Ende bedrohlich nah zu rücken.

Und darum machten sich diejenigen, die Jefren im Besonderen und Nafusa darüber hinaus ihre Heimat nennen, nun auf den Weg nach Tripolis, in die Hauptstadt, wo Muammar al Gaddafi immer noch Machthaber ist. Sie wollen wieder eine Aussicht haben, eine Aussicht auf ein besseres Leben.

Bis noch vor zwei Wochen lagerten Gaddafis Truppen im unteren Teil ihrer den Hügel hinaufgebauten Stadt Jefren mit ehemals 25.000 Einwohnern. Mit schwerem Geschütz haben die Soldaten die höher gelegenen Stadtteile wochenlang unter Beschuss genommen, mit Grad-Raketen, russischen Schnellfeuerraketen, die für ihre Zerstörungskraft bekannt sind und für mangelnde Präzision. Und die Menschen oben in der Stadt saßen ohne Wasser und Strom fest wie in einem Turm. „Zwei Monate lang haben sie uns mit ihren Raketen und Flugabwehrkanonen bombardiert“, sagt einer der jungen Berber aus der Stadt. „Aber nie haben sie den oberen Teil der Stadt erobern können.“ Und dann kam die Wende: Gaddafis Truppen zogen sich zurück.

Es ist ein von der Öffentlichkeit wenig beachteter Kampf, der im Nafusagebiet seit drei Monaten erbittert ausgetragen wird zwischen lokalen Rebellen und Gaddafis Truppen. Die internationale Aufmerksamkeit richtet sich auf andere Fronten, auf Bengasi im Osten und die Küstenstadt Misrata. Aber nur auf dem Hochplateau des Westens haben die Rebellen, die ihren Protest als Solidaritätserklärung für die Aufständischen begannen, beachtliche Erfolge erzielt. Und: Von Nafusa aus sind sie weniger als 100 Kilometer von der Hauptstadt Tripolis entfernt, wohin von hier aus zahlreiche Angehörige der Amazigh-Minderheit verschleppt wurden, um sie im staatlichen Fernsehen auftreten und danach in Kerkern verschwinden zu lassen.

Deshalb begannen sie ihren Marsch. Sie begannen ihn in Jefren, wo die Spuren des Krieges allgegenwärtig sind. Das Hotel Jefren mit seiner beliebten Terrasse ist zerstört, liegt in Trümmern da. Die Oberschule ist von Granaten durchlöchert. „Meine alte Oberschule“, sagt Tarek, während er auf seinem alten Spielplatz herumläuft. Im Büro des Hausmeisters hängen noch die Schlüssel für die Klassenzimmer, aber es gibt kaum noch eine intakte Tür. Im Gebäude der Feuerwehr hatten Gaddafis Truppen ein Feldlager eingerichtet, und sie hinterließen es als desolates Durcheinander. Munition, Decken, Ferngläser, Helme bedecken den Boden, und im Hof liegt der verwesende Kadaver eines Pferdes. „Sie haben das Pferd erschossen, als sie flüchten mussten“, sagt Tarek. Er wedelt mit der Hand vorm Gesicht, um den Gestank zu vertreiben.

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Der Preis, den die Region für ihre Solidarität mit den Aufständischen von Bengasi zahlt, ist hoch: Fast alle Dörfer auf der Hochebene sind menschenleer. Wer nicht kämpfen wollte, floh ins Nachbarland Tunesien. Die Männer, die geblieben sind, arbeiten in den überfüllten Krankenhäusern oder sie kämpfen.

Die Frontlinie hat sich Richtung Osten verschoben. Erst bis zur Stadt Al Qalaa, in der die Rebellen inzwischen auch herrschen, und dann noch mal zehn Kilometer weiter, bis zur Stadt Kikla.

Entlang der Straße nach Kikla befinden sich auf einem Hügel die Reste eines Feldlagers der Gaddafi-Truppen, von dem aus sie die Straße unter Beschuss genommen haben. „Wir haben sie gestern von fünf Seiten aus angegriffen“, erzählt Adel Abouzaid, 35, ein ehemaliger Informatiker, der an dem Angriff beteiligt war. Überall liegen noch leere Patronenhülsen und Munitionskisten herum. Einige blutverschmierte Decken wurden benutzt, um fünf Leichen der Gaddafi-treuen Soldaten zu bedecken, bevor sie begraben wurden. „Es waren Tuareg aus dem Süden von Libyen“, sagt Abouzaid. Das wisse er ganz bestimmt, weil er in den Taschen eines Soldaten einen Speicherchip mit einem kurzen Videofilm gefunden habe, den er auf seinem Handy abgespielt habe. Zu sehen waren die Kameraden des Toten, sie feierten und waren betrunken, aber ihr Akzent sei eindeutig Südlibysch gewesen, sagt Abouzaid.

Es ist ein merkwürdiger Bürgerkrieg, in dem Berber gegen Tuareg kämpfen, und Libyer nicht mehr Libyer sind, sondern Gaddafa, Warfalla, Hasawna und Zuwayya, in dem die Streitmächte beider Seiten mit Fußballtrikots, Turnschuhen, Badelatschen und den Resten von Tarnanzügen ausgerüstet sind. Auf dem Hügel steht ein Haus, in dem Computer und sogar eine Klimaanlage herumliegen, die Gaddafis Krieger aus Häusern und einer nahe gelegenen Schule geklaut haben. Trotzdem verschiebt sich die Macht wie in einem regulären Krieg. In weiter Ferne liegt die Stadt Kikla, die neue Frontlinie. Man hört es knallen, wenn Grad-Raketen einschlagen. „Es gibt heftige Kämpfe“, sagt Abouzaid, „aber hoffentlich haben wir bald alles unter Kontrolle.“

Wie erklärt er den Erfolg der Rebellen in den westlichen Bergen, während der Kampf an anderen Fronten oft eine Pattsituation genannt wird? „Wir sind Amazigh, Berber“, sagt Abouzaid. „Gaddafi hat uns schon immer gehasst. Und wir haben ihn schon immer gehasst.“ Jetzt, da der Kampf ausgebrochen sei, gebe es nur eine Alternative für die Berber: Sie müssen kämpfen, um zu überleben.

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Die Berber führen in Libyen das Leben einer unterdrückten Minderheit. Laut Amnesty International ist es ihnen nicht einmal erlaubt, ihren Kindern traditionelle Namen zu geben, ihre Sprache ist verboten, sie darf nicht unterrichtet werden. Abouzaid erzählt, dass Gaddafis Truppen in die Berberstädte mit besonderer Brutalität eingefallen wären.

Doch die Berge sind Berberland. „Wir kennen jeden Hügel hier“, sagt Abouzaid. Anders als die Truppen des Machthabers, die oft aus anderen Regionen stammen und bunt zusammengewürfelt in den Westen geschickt wurden. „Gaddafis Truppen wissen nicht, wo sie sind“, sagt Abouzaid: „Die Natur schützt uns, die Berge kämpfen für uns.“

Und so drängen sie ihre Gegner immer weiter zurück aus dem Gebirge. Das nächste Ziel der Rebellen ist Gharyan, am östlichen Ende des Bergriegels. Dort wären die Rebellen nur noch eine Autostunde Fahrt von Tripolis entfernt, aber sie würden sich in dem Flachland, das sich vor ihnen bis zur Küste im Norden ausbreitete, nicht auskennen. Wie also weiter?

Eine Lösung liegt möglicherweise in Nalut und der Tripolis-Brigade.

In der Bergstadt weit im Westen laufen 100 junge Leute rund um die Gebäude eines Militärlagers. Sie stammen aus Tripolis. Jetzt zischeln sie ihren Schlachtruf „Ossud! Ossud!“ Löwen, Löwen, und kriechen unter Stacheldraht und zwischen brennenden Fässern hindurch, während der Kommandeur der Brigade mit seiner Kalaschnikow in die Luft feuert, um die Atmosphäre eines Schlachtfelds zu imitieren. „Tripolis ist eine andere Geschichte als die westlichen Berge, und darum haben wir unsere Tripolis-Brigade errichtet“, sagt der Kommandeur, Mahdi, 38. Sie besteht aus Freiwilligen. „In Tripolis hat Gaddafi seine stärksten Kräfte stationiert. Da kann man nicht einfach reinstürmen. Man muss die Straßen und Plätze kennen und Kontakte haben zu den Untergrundzellen, die es in Tripolis schon gibt. Die Befreiung von Tripolis ist unsere Aufgabe, gemeinsam mit den Menschen von innen heraus. Wir kennen diese Leute, weil sie unsere Leute sind.“

So spricht Mahdi und ist zuversichtlich. Und sein Adjutant Walid erzählt, dass jeder Tag ihnen neue Rekruten bringe. Die meisten kämen inzwischen aus Tripolis, kaum welche noch aus dem Osten des Landes, aus Bengasi, weil die Reise von Bengasi nach Westen auf den wenigen Straßen des Landes nahezu unmöglich geworden sei. „Abgesehen von den ersten Rekruten, die noch in Bengasi gekämpft haben, hat keiner von uns einen militärischen Hintergrund“, sagt Walid. „Unsere Neuen sind Ärzte, Ingenieure. Ich bin ein Computer-Ingenieur, und ich hatte vorher nie eine Kalaschnikow in der Hand.“ Aber das sei nicht das größte Problem. Das größte Problem der Brigade sei der Mangel an Waffen. „Alle Waffen werden an der Front benötigt. Zur Ausbildung haben wir drei Kalaschnikows für 100 Rekruten.“ Die seien aber trotzdem hochmotiviert. Es sind Männer wie Haithem.

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Haithem ist um die 30 Jahre alt, ein freundlicher Bursche, ein bisschen übergewichtig, der so gar nicht auf die Militärbasis einer Rebellenhochburg passt. Bis vor wenigen Monaten arbeitete er als Pilot für eine große nordafrikanische Fluggesellschaft, jetzt sagt er Sätze wie: „Ich habe keine Angst zu sterben.“ Oder: „Wenn keiner sterben will, dann sterben wir alle.“ Er sagt, Gaddafi habe diesen Krieg angefangen, und dass sie, er, seine Familie, seine Freunde, für ihre Freiheit kämpfen, und dass sie die sehr bald bekommen würden.

Haithem hat über Tunesien den Weg in die Berge genommen. Und wenn der Krieg vorbei ist, dann will er zurückkehren nach Tripolis, in seine Heimatstadt, und weiter Flugzeuge fliegen.

Haithem ist nicht sein richtiger Name und weitere Einzelheiten über seine Identität sollen auch nicht genannt werden. Wie die 100 anderen Rekruten im Trainingslager der Tripolis-Brigade hat Haithem eine radikale Wahl getroffen: Obwohl noch Mitglieder seiner Familie in Tripolis leben, hat er sich entschieden, Muammar al Gaddafi zu bekämpfen. Sie alle fürchten Repressalien gegen ihre Familien, sollte das bekannt werden.

„Mein Vater ist 60, aber seit Februar ist er im Gefängnis“, begründet ein anderer Rekrut, Ahmad, seine Vorsicht. „Er kann kaum noch laufen, aber er wurde verhaftet. Wenn die Geheimpolizei Gaddafis herausbekommt, dass ich hier bin, dann ermorden sie ihn.“ Ahmads amerikanischer Akzent verrät, dass er viele Jahre in den USA gelebt hat.

Er ist nicht der einzige Auslandslibyer, der in dieser historischen Stunde in seine Heimat zurückgekehrt ist.

In der Stadt Jadu, etwa 150 Kilometer vom Trainingslager entfernt, und zentral gelegen in den Bergen, sitzen sechs junge Männer beisammen, die sich als „ein Bankier, ein Tischler, zwei Ingenieure und zwei Ärzte“ vorstellen, und rauchen. Sie sind in Jadu für eine „spezielle Ausbildung“. Was das ist, schildert einer von ihnen, der seit mehr als fünf Jahren in den Niederlanden lebt: Er werde jetzt in Sabotagetechnik geschult. Die Situation sei nicht immer einfach, fügt er hinzu und grinst. „Während meiner Ausbildung in Sabotage muss ich am Telefon mit der Bank über die Hypothek für mein Haus in den Niederlanden reden.“

Trotzdem fühlt er sich jetzt in Libyen am richtigen Ort. Hunderttausende Libyer seien ins Ausland geflohen, sagt er. „Jetzt sind wir zusammengekommen, obwohl wir einander zuvor nicht kannten. Dies ist unser Moment, unsere Chance, Libyen in ein normales Land umzuwandeln.“

Die Stadt Zintan, am Rande der Berge, liegt schon seit Februar kontinuierlich unter Beschuss der Artillerie Gaddafis. An diesem Tag werden die Rebellen versuchen, Gaddafis Truppen aus zwei benachbarten Dörfern zu vertreiben, in denen die Raketenwerfer aufgestellt sind. Mit dabei ist Fatih, auch er kein typischer Soldat, eher ein weicher Typ, übergewichtig, 23 Jahre hat er in Kanada gelebt, vor zwei Jahren kam er zurück nach Libyen, war als Ingenieur beschäftigt. Aber jetzt ist er im Krieg. „Ich habe so viele Wochen trainiert, aber die Front habe ich noch nie gesehen“, sagt Fatih auf dem Weg nach Zintan. „Ich bin so unglaublich bereit.“

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