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Diese Karte zeigt, wie sich die Adressen der IMs auf das Gebiet West-Berlins verteilen.

© Tsp

Der Spitzel von nebenan: Wo wohnte die Stasi in West-Berlin ?

„Wir müssen alles wissen.“ Das war einer der Leitsätze von Stasi-Chef Erich Mielke. Er galt auch für das„Operationsgebiet“ im Westteil Berlins. Zur Zeit wird eine Straßenkartei ausgewertet, die akribisch dokumentierte, wo die West-Berliner Spitzel wohnten.

Im Jahr 1969 meldete sich eine Richterin aus West-Berlin bei den Uniformierten am Grenzübergang Friedrichstraße. Sie erwog, in die DDR überzusiedeln – auf Grund ihrer „politischen Überzeugung“, protokollierte später das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Die junge Juristin hatte im Sog der Studentenbewegung Marx, Engels und Lenin studiert, wurde Mitglied einer Basisgruppe der Außerparlamentarischen Opposition, kurz APO, ihr Lebenspartner war Mitglied der SEW, dem Westableger der DDR-Staatspartei SED.

Das MfS bot ihr die bevorzugte Bearbeitung der Übersiedlung an, wenn sie zunächst mit dem DDR-Geheimdienst kooperieren würde. Nach einigen Vorbehalten willigte sie schließlich ein. Unter dem Decknamen „Christa Pratt“ lieferte die Frau in der Folge einige Personenbeschreibungen, für die sie auch Geld von einem Angehörigen des MfS bekam und handschriftlich quittierte. Aus familiären Gründen lief diese Agentenvita allerdings schließlich aus.

Viele West-Berliner Agentengeschichten begannen am Bahnhof Friedrichstraße. Der legendäre Ost-Berliner Chef der Auslandsspionage, Markus Wolf, hatte ihn in Anlehnung an die vietnamesische Partisanenstrategie „unseren Ho-Chi-Minh-Pfad“ genannt. Gar nicht selten gingen dem MfS dort wie im Fall der Christa Pratt sogenannte „Selbstanbieter“ ins Netz – sei es, dass ideologische Verblendungen die DDR attraktiver erscheinen ließen, sei es, dass mehr oder minder verkrachte Existenzen hofften, mit Spitzeldiensten ein Zubrot verdienen zu können.

Unter dem Decknamen „Claus Flieger“ diente sich am Ost-West-Nadelöhr in der Stadtmitte ein West-Berliner an, der mit Kontakten zum Verfassungsschutz und zu terroristischen Kreisen der RAF prahlte. Dem MfS, das bei der Werbung von inoffiziellen Mitarbeitern (IM) im Westen äußerst vorsichtig agierte, erschien der Mann nach eingehender Prüfung dubios. Es witterte eine Falle und brach den Kontakt ab.

Sanierter Dienstsitz: Hier arbeitete Stasi-Chef Mielke

Doch auch nach dem Ende der Zusammenarbeit blieben die West-Berliner IM in der Kartei F 78 des Ministeriums für Staatssicherheit registriert. Die F 78 war die Straßenkartei, in der das MfS die Daten der Zuträger aus West-Berlin zusammenfasste. Sie wird derzeit in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen erstmals systematisch ausgewertet. Diese Kartei gab der Stasi einen Überblick, wo im Westteil der Stadt im Bedarfsfall ein willfähriger Spitzel oder ein konspiratives Objekt zur Verfügung standen. Rund 1350 Karteikarten aus den Jahren 1960 bis 1989 sind noch vorhanden. Jede von ihnen steht für eine Spitzelakte beziehungsweise für eine konspirative Adresse. Als die Stasileute 1989 durch die friedliche Revolution in der Defensive waren, entsorgten sie offenbar einen Teil der Kartei. Einige prominente IM, wie Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoss und damit zur Radikalisierung der protestierenden Jugend beitrug, fehlen. Auch die West-Berliner Spionageagenten der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) wurden offenbar aussortiert. 350 HVA-Agenten zusätzlich müssen es nach Berechnungen des Spionageexperten Helmut Müller-Enbergs in den letzten Jahren der DDR gewesen sein.

Trotz gewisser Lücken ist diese Kartei eine zeitgeschichtliche Fundgrube. Sie gibt Auskunft über die Spionageaktivitäten der normalen Abwehr-Diensteinheiten des MfS in der geteilten Stadt. Sogar kleine Kreisdienststellen in Ost-Berliner Stadtbezirken wie Friedrichshain und Prenzlauer Berg hatten ihre Spitzel in den Westsektoren. Dies verdeutlicht, dass die Westarbeit des MfS kein Monopol der Spionageexperten des Markus Wolf war, sondern eine zentrale Aufgabe für den gesamten Apparat des MfS.

In Bildern: 50 Jahre Mauerbau im Panorama

Gerade in der Frontstadt Berlin wollten Mielkes Mannen den Klassengegner und seine „Feindorganisationen“ unter Kontrolle haben – etwa die vom Westen aus gesteuerten Ostabteilungen der Parteien oder die nach dem Mauerbau gebildete Arbeitsgemeinschaft 13. August, vor allem aber die westlichen Geheimdienste. So verwundert es nicht, dass die Spionageabwehr, die Hauptabteilung II des MfS, die meisten der in der Straßenkartei registrierten IM führte. Zum Beispiel IM „Renate Ludwig“. Als ehemaliges SEW-Mitglied war sie schon während ihrer Parteizeit „mit Regeln und Verhaltensweisen des illegalen Kampfes, zum Beispiel des Verschweigens und Ableugnens ihrer tatsächlichen politischen Haltungen und Bindungen sowie des Handelns auf der Grundlage von Instruktionen“ bekannt gemacht worden. Diese Techniken hatte sie schon „erfolgreich“ angewendet, als sie ihre Anstellung als Lehrerin durchsetzte. Die Hauptabteilung II reichte sie an Kollegen weiter, um ihre Wohnung als Stützpunkt zu nutzen. Die Stasi hielt mehrere solcher konspirativer Wohnungen in West-Berlin vor. Damit sollte vermieden werden, dass Agenten aus Ost-Berlin bei ihren Einsätzen im Westen zu oft vor den Augen der Westabwehr die Sektorengrenze passieren mussten. In den konspirativen Wohnungen konnten sie nächtigen.

Der West-Berliner Agentenalltag war weitaus prosaischer, als Filme und die Fantasie es suggerieren. Agentin „Ines“ etwa beschwerte sich bei ihren Vorgesetzten, ihre Wohnungsgeberin schnarche die ganze Nacht sehr laut. Die Beschuldigte, IM „Ursel Gelbke“, keilte zurück: Die Agentin benehme sich „sehr herrisch“, teilte sie der Stasi mit.

Das Klein-Klein des West-Berliner Agentendaseins – oft werden nur Adressen und Autonummern gesammelt oder Fotos geschossen – darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stasi manchmal hart zugriff. IM „Beate“ wurde 1987 mit 3000 DM ausgezeichnet, weil sie „durch ihren hohen persönlichen Einsatz ... ein vom Menschenhändler Th. organisiertes Verbrechen gegen die DDR verhindert“ habe. Dabei wurde ein Kurier in Ost-Berlin festgenommen, den „Beate“ auf heimtückische Weise selbst für ein Fluchthelferunternehmen angeworben hatte.

Pläne für die Besetzung West-Berlins lagen schon in den Schubfächern

Bahnhof Friedrichstraße. Viele Agentenkarrieren nahmen hier ihren Anfang.
Bahnhof Friedrichstraße. Viele Agentenkarrieren nahmen hier ihren Anfang.

© ullstein bild

West-Berlin war auch ein militärstrategischer Faktor. Einmal weil die DDR Angriffe aus dem Westen befürchtete, zum anderen hatte Ost-Berlin spätestens seit Anfang der 70er Jahre konkrete Pläne zur Besetzung West-Berlins ausgearbeitet. Für jeden Westbezirk waren Kreisdienststellen der Staatssicherheit vorgesehen, die Leiter aus den Reihen der Staatssicherheit standen schon fest. Die Auswertung der Kartei zeigt, dass das MfS in allen Bezirken über Informanten verfügte, am meisten mit 188 in Neukölln, am wenigsten mit 42 in Zehlendorf. Bezogen auf die Bevölkerungszahl saßen die meisten Spitzel von Abwehrdiensteinheiten des MfS in Wedding, Kreuzberg und Schöneberg, die wenigsten in Spandau, Steglitz und Reinickendorf. Trotz aller gebotenen Vorsicht im Umgang mit solchen Statistiken fällt auf, dass der Anteil in Bezirken mit linken Milieus höher war. Ein Befund, der sich mit der bisherigen Spionageforschung deckt.

Nicht zuletzt aus militärtaktischen Gründen war das Interesse der Stasi stark auf die Polizei gerichtet. IM „Honda“ zum Beispiel war Versicherungsagent und vermochte wertvolle Insiderinformationen über die Hobbys sowie die Familien- und Vermögensverhältnisse West-Berliner Polizisten zu liefern.

Der Forscher Georg Herbstritt von der Stasiunterlagenbehörde hat vor einigen Jahren schon auf IM unter den Gastarbeitern hingewiesen. Der Liebestourismus ausländischer Arbeitnehmer nach Ost-Berlin, aber auch Ausländerextremismus veranlassten das MfS zur Anwerbung. So berichtete der IM „Hassan“ über die Aktivitäten der Grauen Wölfe in West-Berlin.

Im Jahr 2011 zeigte eine Ausstellung Bilder aus den geheimen Archiven der Stasi:

Aus MfS-Sicht war es oft die politische oder gar ideologische Überzeugung, die West-Berliner motivierte, mitzumachen. Sicher sind Altkommunisten, Antifaschisten, fehlgeleitete APO-Linke unter den IM. Aber oft wurden Wohnungsgeber auch durch Legenden getäuscht, Ausländer mit Zoll und Devisenvergehen an der Grenze erpresst. Auffällig im Vergleich zur „ehrenamtlichen“ Spitzelei im Osten sind die nicht selten hohen Summen – mehrere 100 DM pro Monat –, die West-Berliner für ihre Dienste im Sold des MfS erhielten. Viele Spitzelakten legen den Schluss nahe, dass es also in der Regel weniger um eine politisch motivierte, innige Beziehung zwischen den Agenten und dem MfS ging. Vielmehr handelte es sich oft nur um Arrangements auf Zeit, häufig spielten finanzielle Motive eine Rolle und nicht selten ließen sich Westberliner auch bei Verwandtenbesuchen im Osten anheuern, nachdem sie mit der Staatsmacht in Konflikt geraten waren.

IM „Fidel“ zum Beispiel war schon vom MfS finanziert worden, bevor er in den Westen übersiedelte. Dort sollte er Exil-DDR-Bürger um Jürgen Fuchs ausspionieren sowie die Fernsehredaktion „Kontraste“ beobachten und „mögliche Verbindungen“ von Redaktionsmitgliedern „zu imperialistischen Geheimdiensten“ erkunden. Der nächste Agententreff war für den 6. oder 13. Januar 1990 vorgesehen. Dazu kam es aus bekannten Gründen nicht mehr.

Der Autor Christian Booß ist Historiker, Journalist und Projektkoordinator in der Forschungsabteilung des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen.

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