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Politik: Der Tag, an dem das Volk an der Weltzeituhr drehte

Die Großdemo war der letzte Versuch, die DDR mit Reformen zu retten. TagespäterfieldieMauer

Von Matthias Schlegel

Als wir an jenem 4. November 1989, einem Sonnabend, aus der Wohnungstür traten, waren wir zu zweit. Unsere Nachbarn gingen gleichzeitig los, da waren wir zu viert. Unten, an der Haustür, trafen wir ein halbes Dutzend weitere Hausbewohner. Auf der Prenzlauer Allee zogen wir zu Hunderten in Richtung Zentrum. An der Kreuzung Mollstraße, nahe dem Alexanderplatz, wechselten wir, wie Tausende andere, vom Bürgersteig auf die Straße. Das seltsame, zunächst beklemmende Gefühl schlug um in befreite Heiterkeit, ja, ausgelassene Euphorie, je größer der Zustrom an Demonstranten wurde.

In einer Art mobiler Galerie des Volkswitzes offenbarten die Plakate und Transparente die in Jahrzehnten geschulte Kreativität der Nebenöffentlichkeit: „Macht die Volkskammer zum Krenz-Kontrollpunkt“, „Wandlitz zeig’ dein Antlitz“, „Mindestrente für abgesetzte Funktionäre“, „Kein Artenschutz für Wendehälse“, „Sägt die Bonzen ab, schützt die Bäume“. Denen, die oben aus den Fenstern schauten, riefen die unten zu: „Heraus auf die Straße!“ Polizisten, die mit verunsicherten Mienen den Demonstrationszug eskortierten, nahmen scheu die ihnen gereichten Blumen entgegen. Allgegenwärtig waren die zwei Worte: „Keine Gewalt“.

Am Ende lauschen mehr als 500 000 Menschen auf dem Alexanderplatz den über zwei Dutzend Rednern. Beifall erhält die betagte Schauspielerin Steffie Spira mit ihrer Absage an Fahnenappelle und anderem propagandistischen Mummenschanz. Die Schriftstellerin Christa Wolf beschreibt ihre Probleme mit dem erstmals von Egon Krenz am 18. Oktober, dem Tag seiner Machtübernahme von Erich Honecker, benutzten Wort „Wende“ – sie möchte lieber von „revolutionärer Erneuerung“ sprechen. Und ihr Kollege Stefan Heym fühlt sich, „als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, (...) den Jahren von Dumpfheit und Mief und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit.“ Pfiffe begleiten die Reden von Politbüromitglied Günter Schabowski, vom früheren Stasi-Vizechef Markus Wolf und von Manfred Gerlach, dem Chef der Blockpartei LDPD, denen man die Kritik an den Zuständen, die sie selbst mit heraufbeschworen haben, nicht abnimmt.

Viel ist geschrieben und spekuliert worden über jene größte Massenansammlung des revolutionären Herbstes in der DDR. SED und Stasi selbst hätten ihre Hände im Spiel gehabt bei der Organisation, um den aufgestauten Frust der Bevölkerung in geordnete Bahnen zu kanalisieren. Wohl war die Staatssicherheit gut vorbereitet. Stasi-Chef Erich Mielke hatte unter anderem angewiesen, dass alle an der Demonstration teilnehmenden Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) ihre „Möglichkeiten zur Herbeiführung eines friedlichen, disziplinierten Verlaufs sowie zur Zurückweisung von Provokationen“ auszuschöpfen hätten. Und „zur Verhinderung von Angriffen auf die Staatsgrenze“, so Mielke an die Leiter der Diensteinheiten, „sind personelle und technische Blockierungsmaßnahmen (Einsatz von Sperrmitteln) vorzubereiten“. Doch die Hoheit über das, was im Lande vor sich ging, hatte das Ministerium für Staatssicherheit längst verloren.

Gerade weil nur fünf Tage später der Fall der Mauer quasi eine erneute „Wende“ einleitete und den Ereignissen eine unbeschreibliche Eigendynamik verlieh, ist der Rückblick aus der späteren Perspektive gelegentlich von einer hochnäsigen Aufgeklärtheit geprägt. Gewiss, die überwältigende Mehrheit der Demonstranten glaubte an einen Fortbestand der DDR, war von ihrer Reformierbarkeit überzeugt und hing der Illusion nach, die Sache, für die die DDR stand, sei im Kern gut, sie sei nur falsch angepackt worden.

Im Nachhinein haben viele derer, die damals dabei waren, das Gefühl, sich verteidigen zu müssen; dafür, dass sie die Dimension des Wandels nicht erkannten und die Perspektive der deutschen Einheit nicht vorhersahen. Und dass sie nicht verstanden, dass eine DDR, die das einlösen würde, was auf den Plakaten stand – Reisefreiheit, Meinungsfreiheit –, sich damit selbst abschaffen würde. Selbst ein integrer Bürgerrechtler wie der unlängst verstorbene Wolfgang Ullmann sah sich zum 10. Jahrestag der 4.-November-Demonstration 1999 veranlasst, in einem Artikel darauf hinzuweisen, dass es damals durchaus auch Plakate gegeben habe, die dem Thema Mauer gewidmet gewesen seien. Selbst sein eigener Enkel habe ein Schild getragen: „Die Mauer muss weg“.

Um dauerhaft in die Geschichte einzugehen, bedarf der 4. November 1989 solcher Rechtfertigungen nicht. Er hat seinen festen Platz im Ablauf der friedlichen Revolution – vor allem dank der Masse der Beteiligten. Die entscheidenden Vorleistungen dafür hatten freilich andere erbracht – und sie hatten sich dabei tatsächlichen Gefahren ausgesetzt: die Botschaftsflüchtlinge, die Ungarn-Flüchtlinge, die illegalen Friedens-, Umwelt- und anderen Bürgerrechtsbewegungen, die Montagsdemonstranten des 9. Oktober in Leipzig. Der 4. November nahm als erste offiziell angemeldete Großdemonstration das Protestpotenzial auf und artikulierte das Unbehagen, dass die eigentlichen Probleme der DDR bei den neuen SED-Machthabern Krenz und Co. noch immer nicht in den richtigen Händen lagen.

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