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Politik: Der Unterschied ist Talmi

PARTEIEN UND IDEOLOGIE

Von Robert Birnbaum

Es ist viel hoher Ton in der Politik in diesen Tagen. Patriotismus und soziale Gerechtigkeit, Eigenverantwortung und Gemeinsinn – ewige Werte haben Konjunktur, und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Es gibt Beobachter des politischen Getriebes, die von einer Rückkehr der Ideologien reden. Aber das ist ein bisschen allzu früh, und es nimmt die hohen Worte ein bisschen allzu ernst. Es sind gar nicht Ideologien, die zurückkehren. Es ist höchstens das Ideologische.

Die feine Unterscheidung klingt, als sei sie im philosophischen Seminar ausgebrütet. Aber der Sachverhalt ist ganz einfach. Es gab in der Republik früher eine klare Trennung zwischen den Parteien. Sie war nicht nur, aber auch Reflex der Aufteilung der Welt in zwei Lager. Deren Folgen sind heute in den Museen für Zeitgeschichte zu besichtigen: Die CDU konnte 1976 den Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ plakatieren, ohne sich lächerlich zu machen, schon weil die SPD mit einer Gegenlosung wie „Von Freiheit verstehen wir mehr: Soziale Gerechtigkeit“ mit diesem Pathos – vergeblich übrigens – mitzuhalten versuchte. Mit der tatsächlichen Politik hatte das alles schon damals nur begrenzt zu tun. Ob eine Steuerreform nötig ist oder nicht, ergibt sich keineswegs logisch aus der Abneigung gegen den Sozialismus.

Trotzdem halfen die Slogans bei der Anbindung an Milieus und Klientelgruppen. Sie wirken bis heute nach. Aber es sind eben nur Nachwirkungen. Die SPD-Linke, die für „soziale Gerechtigkeit“ gegen Reformen streitet, wirkt selbst in der eigenen Partei antiquiert in ihrem Anspruch. Eine CDU-Rechte, die im Namen einer monokulturellen Gemeinschaft gegen Zuwanderung polemisiert, wirkt genauso von gestern. Wir sind pragmatischer geworden. Die Frage, ob ein politisches Rezept die jeweilige Krankheit heilt, erscheint uns weitaus wichtiger als die Frage, ob es mit roter, schwarzer, gelber oder grüner Tinte ausgefüllt wurde.

Auch hinter dieser Sichtweise steckt eine Veränderung der Welt. Bis vor etwa einem Jahrzehnt konnten wir uns noch einbilden, die zentrale Aufgabe bestehe in der Organisation des Binnenlebens unserer Republik. Die deutsche Einheit hat diese Nabelschau unfreiwillig verlängert – wir waren mit ihren Folgen gut beschäftigt. Erst jetzt wird allmählich klar, was „Globalisierung“ bedeutet: dass unsere Probleme, von Arbeitsmarkt bis Bildung, von Steuer bis Zuwanderung, sich nur lösen lassen, wenn wir uns einen Teufel um die Reste der alten Ideologien scheren. Weil sich nämlich der Rest der Welt auch nicht um unsere Glaubenssätze schert.

Eine Folge dieser Erkenntnis ist, dass die Rezepte der Parteien sich stark angeglichen haben. Dass trotzdem die großen Worte wieder öfter ausgesprochen werden, beweist dreierlei. Zum einen haben fünf rot-grüne Jahre, aber auch Helmut Kohls späte Jahre den Pragmatismus unter den Verdacht der bloßen Durchwurstelei gestellt. Zum Zweiten herrscht, auch dies nicht nur zur Weihnachtszeit, natürlich Bedarf an Sinnstiftung; beim Einzelnen, mehr noch bei Parteien. Die Abgrenzung zur Konkurrenz braucht Losungen.

Aber weil die Unterschiede so groß nicht mehr sind, kommt dabei meist nicht neue Ideologie heraus, sondern Talmihaftes, Hilfloses – Ideologisches eben. Man kann heute nicht mehr mit vollem Ernst behaupten, für „soziale Gerechtigkeit“ einzutreten. Der Begriff hat einmal nach Arbeiterbildungsverein geklungen und nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Dieser Ton klingt in uns allen nach. Genau deshalb führt er in die Irre. Denn was damals mit dem Wort und seinem Wert gemeint war, könnte heute zu der Schlussfolgerung führen, dass wir Löhne kürzen und Meisterprüfungen abschaffen müssen. Bis auf Weiteres tun wir gut daran, die alten großen Worte nur noch in Anführungszeichen zu setzen.

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