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Politik: Der Wald vor lauter Bäumen Von Andreas Austilat

Wie lange kann man sterben, bis man tot ist? Die Frage stellt sich jedes Jahr aufs Neue und diesmal ganz besonders brisant.

Wie lange kann man sterben, bis man tot ist? Die Frage stellt sich jedes Jahr aufs Neue und diesmal ganz besonders brisant. Denn der aktuelle Waldschadensbericht liegt vor, und sein Befund müsste einen erschrecken. Lange nicht waren die Bäume in Deutschland so krank wie heute. Doch ausnahmsweise fürchtet sich keiner in diesem sonst so ängstlichen Land. Was einen simplen Grund hat: Der Wald stirbt seit 30 Jahren, und immer noch ist er nicht umgefallen. Da liegt der Schluss nahe, so schlimm werde es wohl nicht sein.

Haben wir es also mit Alarmismus zu tun, vorgetragen ausgerechnet von jenen, die einst antraten, den Wald zu retten? Immerhin ist es das grüne KünastMinisterium, das die schlechte Nachricht überbringt. Das Waldsterben gehörte zu den Gründungsmythen der Partei. Und waren es nicht auch die Grünen, die jetzt sechs Jahre Zeit hatten, im Umweltministerium Pläne zur Rettung des Waldes auszuhecken? Doch bevor wir uns in einer Debatte über Schadstofffilter, Stickoxide, Miniermotten und Sommerdürren verlieren, sehen wir mal nach dem Patienten.

Mehr noch als die Germanen fürchteten die römischen Legionäre Silva, den Wald. Doch jene unbezwingbare Düsternis, in der die deutsche Eiche sozusagen als Synonym für die Nation ihren festen Platz zugewiesen bekam, ist schon lange mausetot. Brandenburg zum Beispiel war im 17. Jahrhundert eine baumlose Steppe. Der Wald, wie wir ihn kennen, wurde vor kaum mehr als 250 Jahren aufgeforstet. Schon Hänsel und Gretel verliefen sich also in einer Kulturlandschaft. Über Generationen ist die zur Stangenholzplantage degeneriert, eine maschinengerechte Monokultur wie sie die Industriegesellschaft brauchte. Dieser Wald fällt um, wenn der Sturm in ihn fährt. Er ist ein leichtes Fressen für spezialisierte Schädlinge. Gestresst wie er ist, hat er der Schadstoffemission nicht viel entgegenzusetzen.

Nun die etwas bessere Nachricht: Der Umbau des Waldes hat längst begonnen, so ungefähr vor zehn Jahren ging man in Revieren quer durch Deutschland dazu über, Linden neben Kiefern zu setzen, Eiche neben Weißdorn. Ziel ist ein Wald, in dem eben nicht jeder Baum so alt ist wie sein Nachbar. Den ungleichaltrigen, ungleichartigen Mischwald nennen Forstleute das, und es könnte der Wald der postindustriellen Gesellschaft werden.

Wann aber werden wir endlich Erfolge sehen? In diesem Leben nicht, pflegt der böhmische Fürst zu Schwarzenberg sinngemäß auf solche Fragen zu antworten. Waldwirtschaft sei etwas für Generationen, auf die Ernte muss ein Forstmann locker 80 Jahre warten. Der Fürst kennt sich aus, er besitzt selber außerordentlich viele Bäume.

Spätestens dies gibt eine Ahnung, um welche Dimensionen es bei Themen wie Klimaschutz und schmelzenden Polkappen, Luftverschmutzung und Waldsterben geht: um eine hochkomplexe Angelegenheit, die kaum auf eine einzige Ursache zurückzuführen ist, bei der es nie einen einzigen Schuldigen gibt. Auch nicht die Motte, auch nicht den Sommer. Diese Themen erledigen sich nicht in Legislaturperioden, wahrscheinlich nicht einmal in einem Menschenleben. Und selbst in unseren schnellen Zeiten gilt: Fundamentale Katastrophen vollziehen sich nicht notwendigerweise in rasender Geschwindigkeit – wie Hollywood es zuletzt im Film „The Day After Tomorrow“ suggeriert hat. Sie brauchen manchmal eine Weile, um ihre bedrohliche Eigendynamik zu entfalten. Alles halb so wild? Das wäre eine wagemutige Schlussfolgerung.

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