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Politik: Der Westen, die Menschenrechte und der Tschetschenien-Krieg (Analyse)

Der Krieg in Tschetschenien droht den hohen moralischen Anspruch westlicher Außenpolitik zu blamieren. Menschenrechts-Skeptiker unterschiedlicher Couleur sehen sich bestätigt: die Verbindung universalistischer Prinzipien mit Realpolitik sei weltfremd und verlogen.

Der Krieg in Tschetschenien droht den hohen moralischen Anspruch westlicher Außenpolitik zu blamieren. Menschenrechts-Skeptiker unterschiedlicher Couleur sehen sich bestätigt: die Verbindung universalistischer Prinzipien mit Realpolitik sei weltfremd und verlogen. Sieht man von fruchtlosen Appellen zur Mäßigung ab, hat der Westen dem Wüten der russischen Truppen gegen die Zivilbevölkerung untätig zugesehen. Diese Bilanz wirkt umso schmählicher, als der hohe moralische Ton, den die Nato-Staaten zur Rechtfertigung des Luftkriegs gegen Serbien angeschlagen haben, allen noch laut in den Ohren klingt.

Unglaubwürdig macht sich der Westen aber nicht etwa, weil er auf das rücksichtslose Vorgehen Russlands mit derselben Härte zu reagieren hätte wie auf die Untaten des serbischen Regimes. Drohungen, gar militärischer Druck, scheiden als Option gegen die Atommacht Russland aus. Es hat nichts mit einer doppelten Moral zu tun, sich einzugestehen, dass weltpolitische Kräfteverhältnisse unterschiedliche Haltungen gegenüber verschiedenen Übeltätern erzwingen.

Aber auch realistische Druckmittel gegenüber Moskau wie das Knüpfen von Kreditzusagen an die Bedingung russischer Verhandlungsbereitschaft wurden von den westlichen Regierungen nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Zu groß ist die Furcht, Russland dadurch erst recht in die Isolation zu treiben. Außerdem ist der Westen froh, nach der Zerreißprobe auf dem Balkan nicht auch noch Verantwortung für den kaukasischen Konfliktherd übernehmen zu müssen.

Beschämend ist, dass sich der Westen sein Verhältnis zu Russland noch immer schön färbt. Insgeheim hofft er, die Russen würden das tschetschenische Problem ein für allemal erledigen und sich ihm dann wieder zugänglicher zeigen. Doch Russland hat sich in einen schmutzigen Kolonialkrieg verstrickt, der fortschwelen wird. Die autoritäre Regression und Militarisierung der russischen Gesellschaft sowie der Versuch, eine antiwestliche Achse Peking-Teheran-Moskau zu installieren, strafen das Argument Lügen, Leisetreterei könne ein Abdriften Russlands vom Westen verhindern.

Moskaus Propaganda-Argument, Russland handele in Tschetschenien nicht anders als die Nato im Kosovo-Konflikt, ist demagogisch. Indirekt aber ist der russische Amoklauf im Kaukasus doch eine Folge des Kosovo-Kriegs. Aus seiner relativen Zurückhaltung in diesem Konflikt leitet Russland den Anspruch ab, in seinem Einflussgebiet vom Westen unbehelligt zu bleiben. Und der Westen steht dem ziemlich kleinlaut gegenüber. Hat er die korrupte russische Führung während der Kosovo-Krise doch nach Kräften hofiert und sich selbst suggeriert, sie ziehe mit ihm am gleichen Strang gemeinsamer Werte. Die Stilisierung Russlands zur befreundeten Friedensmacht hat der Nato zwar geholfen, mit einem blauen Auge aus dem Krieg herauszukommen. Dieser glückliche Ausgang hat aber dazu verführt, die Notwendigkeit einer Neueinschätzung der weltpolitischen Rolle Russlands zu verdrängen.

Lavieren wird als Schwäche ausgelegt

Es darf dabei nicht vergessen werden, dass auch die offene Konfrontation mit Serbien erst der Endpunkt einer quälend langen Periode westlicher Passivität und Inkonsequenz war. Dieses Lavieren wurde von Slobodan Milosevic als Schwäche ausgelegt. Eine Wiederholung dieser Eskalationserfahrung kann man sich im Falle Russlands aber auf keinen Fall leisten. Der Westen stünde übrigens glaubwürdiger da, wenn die Nato über ihre politisch-strategische Fehleinschätzung der Stärke und Entschlossenheit des serbischen Regimes und die daraus resultierenden verheerenden Folgen für die serbische Zivilbevölkerung selbstkritisch Rechenschaft ablegen würde.

An der Kritik am universalistischen Pathos westlicher Regierungen ist so viel wahr: Der Kampf für essenzielle zivile Schutzrechte eignet sich nicht für universelle Glücksverheißungen. Die chaotische Lage im Kosovo heut zeigt: Wer kriegerische ethnische und nationale Konflikte austrocknen will, braucht einen langen Atem und eine hohe Frustrationsschwelle gegenüber Rückschlägen. Die Rhetorik mancher westlicher Politiker hat überzogene Erwartungen produziert und den Eindruck erweckt, mit dem Abzug der Serben sei der Friede schon gesichert. Je mehr Illusionen erzeugt werden, umso größer ist die Gefahr, dass die öffentliche Stimmung kippt und sich der Eindruck durchsetzt, man könne gegen die Hydra scheinbar unstillbarer ethnischer und kultureller Feindschaften ohnehin nichts ausrichten.

Doch es ist alles andere als ein Ausdruck von Realismus, die Rückkehr zu einer Großraumpolitik mit säuberlich voneinander abgegrenzten Einflusszonen zu propagieren. Russland ist Mitglied des Europarates, der G 8 und der OSZE. Ohne seine Einbindung ist eine stabile Ordnung in Europa undenkbar. Worauf aber sollte die gründen, wenn nicht auf der strikten Achtung menschenrechtlicher Mindeststandards, auf deren Einhaltung sich die russische Regierung ja selbst verpflichtet hat? Wenn Europa den eklatanten Verstoß gegen diese Normen widerstandslos zulässt, unterminiert es seine politisch-ethischen Existenzgrundlagen. Das wird Nachahmungstäter ermutigen - nicht zuletzt das serbische Regime, das unverändert Revanchegelüste hegt. Aus Gründen der Selbsterhaltung können Demokratien Moral und Interesse nicht voneinander trennen. Das Bestehen auf der Achtung universaler zivilisatorischer Minima ist vielmehr selbst ein essenzieller Bestandteil ihres rationalen Interessenkalküls.

Richard Herzinger

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