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Politik: Der widerspenstige Wähler

Selten hatten es die Umfrageinstitute so schwer, das Ergebnis vorauszusagen

Berlin - Rainer Barzel und Klaus von Dohnanyi wollten sich Anfang Juli partout noch nicht äußern zu einer möglichen großen Koalition. Die beiden Granden der CDU und der SPD hatten auch vernommen, was die Wahlforscher damals erstmals öffentlich aussprachen, dass nämlich eine starke Linkspartei genau diese große Koalition wahrscheinlich machen werde. Barzel und Dohnanyi sind beide Anhänger dieser Parteienkombination, aber sie sagten: „Die Zeit ist noch nicht reif, das öffentlich zu diskutieren.“ Nur Altchristdemokrat Heiner Geißler traute sich und fand, die große Koalition habe viele Vorteile.

In diesem kurzen Wahlkampf wechselten die Aufregerthemen fast täglich, was tags zuvor noch sehr wichtig und wahlentscheidend erschien, war tags darauf schon wieder durch eine neue Entwicklung verändert worden. Auch deshalb musste niemand über die große Koalition reden, nicht im Juli, nicht im August. Aber im September dann schon – und die Demoskopen hatten mit der wachsenden Wahrscheinlichkeit Recht behalten.

Die Wahlforschungsinstitute konnten sich über mangelnde Arbeit nicht beklagen, plötzlich war die Linkspartei im Sommer auf über zehn Prozent geschossen, dann begann der Vorsprung der Union zu bröckeln, das TV-Duell warf seine Schatten voraus, der Kanzler kämpfte wie ein Stürmer auf dem Fußballplatz, Angela Merkel entdeckte Paul Kirchhof als designierten Finanzminister, Schröder entdeckte Kirchhofs Thesen als Wahlkampfthema, und dann kam auch noch Friedrich Merz ins Spiel, bis man schließlich wieder bei der Koalitionsfrage landete: Ein alter Hase in der Wahlforschung klagt: „Die Journalisten wollen doch fast stündlich darüber informiert werden, ob sich etwas verändert hat. Wir finden das spannend, wenn die Themen schnell wechseln.“

Aber das ist auch nur die halbe Wahrheit, denn die Wahlforscher hatten es wirklich nicht leicht hinterherzukommen. Trotzdem gab es noch mehr Umfragen und noch mehr Ergebnisse als sonst. Was hat diesen Wahlkampf für die Demoskopen so schwierig gemacht?

Richard Hilmer von Infratest dimap sagt: „Dass wir es diesmal weniger mit statistischen Schwankungen zu tun haben als mit schwankenden Wählern. Noch nie war die Unsicherheit auf Wählerseite, welche Partei, welchen Kandidaten man wählen soll, so groß.“ Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen antwortet: „Die Bindungen großer Teile der Wähler an Parteien sind ganz allgemein viel geringer als vor 20 Jahren. Dadurch haben wir immer mehr Wechselwähler, die sich immer später in einem Wahlkampf festlegen und auch immer häufiger ihre Parteipräferenz kurzfristig ändern.“ Jung sagt auch, dass dieser Umstand es den Wahlforschern viel schwieriger mache, mit der gleichen Präzision zu arbeiten – und zwar in viel kürzerer Zeit.

Sind Sie denn nervös?

Hilmer sagt, sein aktueller Pulsschlag liege bei 80, „am Sonntag vermutlich bei gefühlten 95“. Jung sieht sich „noch ganz entspannt“, weil die „Hauptkampfzeit ja erst am Sonntag zwischen 18 und 20 Uhr kommt, wenn die ersten ausgezählten Stimmbezirksergebnisse reinkommen und man nicht so recht weiß, was man davon halten soll“.

Wahlforscher sind in erster Linie Perfektionisten. Als 1999 im Saarland gewählt wurde, hatte die Forschungsgruppe Wahlen die SPD vorn und lag einen Prozentpunkt daneben. Dieser eine Prozentpunkt aber war entscheidend, weil die CDU gewann. „Das war unser Waterloo“, gibt Dieter Roth, der Mitbegründer der Forschungsgruppe, zu. Obwohl man nicht einmal außerhalb des Fehlerbereiches lag, habe man sich damals „sehr an die Brust geklopft“.

Werden die Wahlforscher am Sonntag richtig liegen?

Hilmer: „Wir gehen davon aus, dass wir das Ergebnis genau voraussagen.“

Jung: „Ich bin ziemlich sicher, dass wir keine katastrophale Fehlprognose abliefern werden.“

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