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Deutsch-französische Beziehungen: Rendezvous mit der Geschichte

Heute vor 46 Jahren haben Frankreich und Deutschland den Elysée-Vertrag unterzeichnet. Die französische Journalistin und Schriftstellerin Pascale Hugues fragt: Was kann man gegen das Vergessen tun?

Der regelmäßig wiederkehrende Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages ist mittlerweile eine Pflichtübung. Vieles wirkt wie Folklore. Dennoch sollte man an einem Tag wie diesem kurz innehalten. Dass unsere beiden Länder nach so vielen Jahrzehnten wilden Hasses in Frieden leben, ist ein wahres Wunder.

Wer heute in den Zeitungen von damals blättert, in den Archiven die Dokumente aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts liest, die Reden der Generäle und Politiker, wird auf zehntausende hasserfüllte Sätze stoßen, Sätze, vibrierend von brutalem Nationalismus, idiotisch und bombastisch – formuliert von beiden Seiten. Sätze, die mit ihrem aus der Mode gekommenen Pathos nur noch Ablehnung, Schulterzucken, Gelächter hervorrufen. Jenseits der abgegriffenen Klischees gibt es nicht mehr die geringste Spur von Hass. Dafür etwas zu viel Gleichgültigkeit, einen Mangel an Neugier, insbesondere bei den jungen Menschen. Es ist dies der Preis der Normalität. Genau das, wovon Konrad Adenauer und Charles de Gaulle bei der Unterzeichnung des Vertrages am 22. Januar 1963 nach drei Kriegen geträumt haben.

Fragen hilft

Aber es gibt eine Möglichkeit gegen das Vergessen anzukämpfen: fragen. Nur darf man nicht mehr allzu lange damit warten. Fünf Jahre, höchstens zehn. Es ist die letzte Chance. Bevor die Großeltern in die Altersdemenz hinüberdämmern, fragt sie, was sie euch über ihre Jugend im „Dritten Reich“ erzählen können. Fragt sie nach den Briefen, die eure Urgroßväter von der Front geschrieben haben, ehe irgendeiner „diesen alten Krempel“ in den Mülleimer wirft. Fragt die alte Cousine, wie ihre Familie die Flucht aus Ostpreußen überstanden hat. Fragt nach der Angst, dem gesellschaftlichen Klima, der Propaganda, den jüdischen Kindern, die plötzlich von ihren Schulbänken verschwunden waren, und nach deren Schicksal niemand gefragt hat. Fragt nach der Geschichte eurer Familie.

„Warum hast du nie etwas erzählt?“ fragte eine Deutsche ihren Vater auf seinem Sterbebett. „Aber du hast mich doch nie gefragt“, antwortete der ehemalige Waffen-SS-Mann. „Er hatte recht. Ich habe nie gefragt. Ich habe ihn immer nur angeklagt und angegriffen. Mein Vater hatte keine Chance. Jetzt könnte ich fragen. Jetzt ist er tot“, sagt die Tochter, die nach dem Tod ihres Vaters angefangen hat, in den Archiven nachzuforschen. Man kennt diese Sprachlosigkeit einer Generation von Deutschen, gebeutelt von Scham, zerfressen von Zorn. Auch hier ist die Zeit weitergegangen. Die Gemüter haben sich besänftigt. Es fällt den Großeltern leichter, ihren Enkeln davon zu erzählen.

Viele Bücher wurden geschrieben

Und das Fragen hat bereits begonnen. In unseren beiden Ländern sind ganze Heerscharen von Enkeln dabei, die Schrankkoffer auf den Dachböden zu durchwühlen, die Feldpostbriefe ihrer Großväter zu entziffern, sich in den Archiven die Hosenböden abzuwetzen. Eine ganze Flut von Büchern wurden in den vergangenen Jahren in Deutschland veröffentlicht. Mit der größtmöglichen Distanz bemühen sich die Kinder und noch häufiger die Enkel zu verstehen, wie ihre Väter und Großväter zum „Dritten Reich“ standen. Sie schreiben im Allgemeinen, ohne zu verurteilen. Die große Zahl von Büchern und ihre Beliebtheit bei den Lesern zeigen ein echtes Bedürfnis, Fragen zu stellen.

In Frankreich ist es genauso. Dominique Fernandez, 79 Jahre alt, Schriftsteller von Rang, mit dem Lorbeer der Academie française geschmückt, hat soeben ein 800-seitiges Buch über seinen Vater veröffentlicht, glänzender Schriftsteller und mieser Kollaborateur in der Besatzungszeit. Er versucht, die „Verirrung“ seines Vaters zu verstehen. Die Geschichtsprofessoren an den französischen Universitäten berichten, dass immer mehr Studenten ihre Examensarbeit nicht mehr über den Krieg oder das Naziregime schreiben, sondern über die faulen Kompromisse der Franzosen mit dem Vichyregime. Bücher, mehr oder weniger gut, mehr oder weniger verlässlich, aber auf jeden Fall Ausdruck eines tiefen Verlangens: jetzt zu fragen, wo noch Zeit ist.

Und die drängt. Am 12. März 2008 ist Lazare Ponticelli gestorben, der letzte französische Frontsoldat des Ersten Weltkrieges. Er wurde 110 Jahre alt. Der Präsident der Republik persönlich gab seinen Tod bekannt. Erich Kästner, der letzte deutsche Veteran, starb am 1. Januar 2008. Heute gibt es weder in Frankreich noch in Deutschland Männer, die am Ersten Weltkrieg teilgenommen haben. Vom Zweiten Weltkrieg gibt es noch ein paar. Doch die in den 30er und 40er Jahren Erwachsenen sind ebenfalls schon fast alle tot. Es bleiben die einstigen Kinder, Flakhelfer, jungen Soldaten. Es bleiben die jungen Frauen von damals. Es eilt. „Hätte ich doch nur gefragt“, ist ein schrecklicher Satz. Ein Bedauern, das Sie Ihr Leben lang quälen wird. Eine auf ewig versäumte Gelegenheit, die Geschichte zu verstehen. Die große und die der eigenen Familie.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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