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Deutsche Einheit: Vollbracht, aber nicht vollendet

Nicht alles, was sich die Menschen nach der Wende versprochen haben, trat auch ein. Den neuen Ländern geht es im Einheitsjahr 24 immer noch nicht so gut wie den alten. Es muss noch viel getan werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Robert Ide

Die Einheit Deutschlands ist ein bleibendes Wunder. Dass von deutschem Boden eine Revolution ausging, die friedlich blieb und freiheitlich gelang, ist der Kern dieses Wunders – gesät von mutigen Menschen auf ostdeutschen Straßen und Plätzen. Dass im Alltag der Übergang zur erkämpften Demokratie, zur ersehnten D-Mark und zur garantierten Freiheit der Reise, Rede und in der Wirtschaft geschafft wurde – mit einer nicht nur vor Fantasie blühenden Hauptstadt Berlin in der Mitte eines nach Osten gerückten und von einer Ostdeutschen regierten Deutschlands –, dies ist des Landes pralle Frucht, die zum 24. Feiertag der deutschen Einheit hervorragend schmeckt. Aber diese Frucht enthält noch Spuren von Bitternis, die zeigen, dass die innere Einheit nicht ganz gereift ist. Viele Menschen haben nicht nur für die Freiheit einen Preis bezahlt, sondern durchaus auch für die Einheit. Zumindest den Preis eines kompletten Neustarts über Nacht.

Natürlich wirken sie abgeschmackt, die geteilten Gefühle im Einheitsjahr 24. Aber selbst junge Ostdeutsche, die den Fall der Mauer nur als Kinder erlebt haben, organisieren sich in Netzwerken einer Dritten Generation Ost. Nicht aus Nostalgie, sondern wegen des Gefühls weiterhin geteilter Wahrnehmungen und ökonomischer Möglichkeiten. Das will nicht passen zu den Feiertagsmeldungen, in denen etwa die Kreditanstalt für Wiederaufbau nun das „zweite deutsche Wirtschaftswunder“ zwischen Ostsee und Erzgebirge preist. Aber die Lücke der Erwartungen und der Einkommen klafft weiter; sie schlägt sich auch in Landtagswahlen nieder, an denen nur noch die Hälfte der Ostdeutschen teilnehmen möchte.

Abgehängte Landkreise

Im Grunde sind die Ostdeutschen Pioniere einer Marktwirtschaft, wie sie heute global normal wird: Arbeitszeiten sind so flexibel wie möglich, Arbeitsorte oft so weit weg wie noch möglich, viele Löhne so niedrig wie bei schwächerer Kaufkraft und geringerer Produktivität offenbar nötig. Viele Ostdeutsche haben mit der Abwicklung der Planlos-Planwirtschaft der DDR im Crashkurs erlernen müssen, was Arbeitnehmern inzwischen überall in Deutschland und Europa blüht: Eine mobile Wirtschaft mit flüchtigen Arbeitsplätzen, aber auch ungeahnten Exportmöglichkeiten löst alte Großbetriebe ab.

Dies führt zum Wachstum von Ideen und wirtschaftlichen Kernen, ja auch zum Erblühen von Landschaften – etwa rund um Berlin, in Leipzig und Dresden, auch in Rostock, Greifswald oder Frankfurt an der Oder. Daneben gibt es allerdings auch (für immer?) abgehängte Landkreise in Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern. 15 Prozent der Ostdeutschen haben nach dem Umbruch ihrer Heimat den Rücken gekehrt, meist sind sie der verlorenen Arbeit hinterhergereist. Neben den blühenden Landschaften, in die manche inzwischen zurückkehren, zeigt sich wirtschaftlich verstepptes Flachland. Hier fehlt es an Ärzten und Fachkräften, mehr noch als im alten Westen. Und an reichen Erben, die mit altem Geld etwas Neues aufbauen könnten.

Niemandem soll es schlechter gehen. So hat es Helmut Kohl den Ostdeutschen versprochen. Dieses Versprechen ist eingelöst. Es geht Ostdeutschland sogar besser als Griechenland; als Polen und Ungarn sowieso. Dass es aber den nicht mehr neuen Ländern im Schnitt genauso gut geht wie den alten, dieses Ziel ist längst noch nicht erreicht. Bis dahin dürfen sich Ostdeutsche über manche Feiertagsmeldung wirtschaftswundern. Die Einheit ist vollbracht, mit Anstrengung und Bravour – vollendet ist sie nicht.

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