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Menschen campen im Gezi-Park

© dpa

Deutsche Erasmus-Studenten in Istanbul: "Taksim ist gerade ein sehr anarchistischer Platz"

Anwohner des Taksim-Platzes gehen nicht mehr ohne Schutzhelm und Taucherbrille aus dem Haus, ein Gasmaskenverkäufer macht das Geschäft seines Lebens: Zwei Deutsche in Istanbul erzählen von ihrem Alltag im Herzen der türkischen Proteste.

Zersplitterte Glasscheiben, Feuer, schreiende Menschen - und überall war Gas. Cornelia Huchler fand sich in einer Art Kriegsszenerie wieder, als sie das erste Mal auf dem Taksim-Platz mitdemonstrierte. Ihre Augen tränten vom Gas, ihre Haut brannte. Sie rettete sich in ein Hostel, hatte Angst. Das hatte sie nicht erwartet. Trotzdem ging sie am nächsten Tag wieder auf die Straße. "Wenn man uns nicht hört, dann schreien wir noch lauter", sagt sie. Huchler ist vor zweieinhalb Jahren für ein Erasmus-Jahr nach Istanbul gekommen - und geblieben. Die letzten Tage waren für sie vor allem eins: Ausnahmezustand. Mit den Protestierenden hat sie sich schnell solidarisiert, vor allem aus Empörung über das brutale Vorgehen der Polizei bei der Räumung des Gezi-Parks. Wie viele Istanbuler geht sie nun sicherheitshalber nicht mehr aus dem Haus, ohne Fahrradhelm, Mundschutz und Taucherbrille dabei zu haben, als Schutz vor Schlagstöcken und Tränengas. Schlaf kommt zu kurz. "Wenn wir nicht im Gezi-Park sind, verfolgen wir auf dem Computer alle neuen Posts auf Facebook oder Twitter", sagt sie. Noch immer sendet das türkische Fernsehen statt Berichten über die Proteste vor allem Kochshows und Tierdokumentationen. Ähnlich wie im Arabischen Frühling sind die sozialen Netzwerke für die die Istanbuler deswegen zum Nachrichtenersatz geworden.Unter Twitter-Tags wie #resistgezi und #occupyistanbul sammeln sich Informationsbruchstücke, die zusammen ein unübersichtliches, doch eindrückliches Bild der Vorgänge ergeben.

Auch der 23-jährige Benjamin Möhring, der als Erasmusstudent an der Istanbul Technical University für ein Jahr Bauingenieurwesen studiert, war in den vergangenen Tagen zusammen mit seinen türkischen Freunden viel auf der Straße. "Es geht den Leuten nicht nur um die Bäume im Park“, sagt er, „es geht um die aus politischen Gründen inhaftierten Journalisten, um Erdogans Kurs und darum, dass die Regierung Großprojekte einfach in Top-Down-Manier durchzieht". In den letzten Tagen hat Möhring vieles erlebt, was ihn verstört hat. "Ich habe Menschen mit den heftigsten Kopfverletzungen am Straßenrand liegen gesehen", sagt er. Am Tag nach der Räumung des Gezi-Parks war er in der Nähe des Taksim-Platzes, die Straßen waren voller Menschen. Als die Polizei anfing, Gaspatronen mit großen Gewehren mitten in die Menge zu schießen, rannte Möhring los. „Es brennt in den Augen, man wird benommen“, beschreibt er die Wirkung. Ärzte vermuten, dass es sich um CR-Gas handelt, das 6 bis 10 mal stärker ist als normales Tränengas .

„Die Solidarität der Menschen untereinander war umwerfend“, sagt er. Viele Anwohner hätten den Demonstranten die Türen geöffnet, um ihnen Schutz zu bieten; Ärzte hätten die verletzten Demonstranten freiwillig versorgt. „Und wenn man nicht weiß, ob man einen bestimmten Berg hoch laufen kann, weil da vielleicht Polizei ist, kann man immer Leute fragen, die ein Smartphone haben", erzählt Möhring, "die gucken dann bei Twitter nach und sagen dir, ob die Luft rein ist."

Tausende Menschen demonstrieren auf der Straße "Istiklal Caddesi"
Auf der großen Einkaufsstraße "Istiklal Caddesi" tragen am 2. Juni tausende Istanbuler ihre Unzufriedenheit mit dem konservativen Kurs des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan auf die Straße.

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"Es gibt viele Bilder, die einem Mut machen", sagt auch Cornelia Huchler. Sie erzählt von Menschen, die im Gezi-Park Essen verteilen, von Medizinstudentinnen, die kleine Krankenstationen aufbauen und von Menschen, die Hunde und Katzen von Tränengas befreien. Die Proteste würden außerdem immer professioneller, meint Möhring. Zitronen, das hat sich zum Beispiel über soziale Netzwerke herumgesprochen, helfen, wenn das Gas in den Augen brennt; noch besser ist ein bestimmtes Magenmedikament. Doch viele Demonstranten wollen noch besser gegen Gas und Schläge geschützt sein: "Ich bin einmal zufällig an einem Geschäft vorbeigekommen, das völlig überfüllt war", sagt Möhring, "dann hab ich gesehen, da wurden tatsächlich Gasmasken verkauft".

Kleine Geschichten wie diese spiegeln die seltsame Mischung aus euphorischer Aufbruchsstimmung und Angst wider, in der sich die blutjunge Protestbewegung befindet. Doch es sind eben nur Geschichten von einer Seite: "Man darf nicht vergessen, dass die Demonstranten eben keinen Querschnitt der Bevölkerung darstellen“, sagt Möhring, dem bewusst ist, dass viele die Demonstranten auch als Bedrohung empfinden. In Huchlers und Möhrings Freundeskreisen weiß niemand, wie es weitergeht. Aufgeben, so viel ist klar, will niemand: "Es gibt diesen gemeinsamen Feind Polizei, das schweißt die Leute zusammen", meint Möhring, der gleich wieder auf die Straße gehen will, "Taksim ist gerade ein ziemlich anarchistischer Platz."

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