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Deutsche Vielfalt: "Fundamentalismus ist eine christliche Erfindung"

Der Spruch der Karlsruher Richter zur Schulpflicht diese Woche hat wieder einmal Licht auf ein Stück deutsche Vielfalt gelenkt, in diesem Fall auf die Vielfalt des Fundamentalismus. Andrea Dernbach über die Fundis Christi – und die von Mohammed.

Das Bundesverfassungsgericht erklärte das Bußgeld gegen Eltern für rechtens, die ihre Kinder zweimal nicht zur Schule geschickt hatten. Sie hatten sie weder dem als katholisch-enthemmt gebrandmarkten Schulkarneval aussetzen wollen noch einer Sexualkundeeinheit unter dem Titel „Mein Körper gehört mir“. Die Eltern sind Baptisten und sahen ihre religiösen und ihre Erziehungsrechte verletzt.

Abmeldung von Sexualkunde oder Sportunterricht – das ist üblicherweise eins der heimischen Schlachtfelder um fundamentalistische Muslime und türkisch-arabische angebliche Parallelgesellschaften. Zumindest in Karlsruhe sind seit den 70er Jahren jedoch meist Christen mit diesem Wunsch erschienen – und bisher abgeblitzt. Nicht zufällig, denn historisch ist der Fundamentalismus eine christliche Erfindung; seine Wurzeln hat er in einer konservativen Bewegung im US-Protestantismus im 19. Jahrhundert, als deren organisatorische Gründerfigur ein baptistischer Geistlicher gilt, der 1872 verstorbene James Inglis. Sein Nachfolger, der Presbyterianer James H. Brookes, gab eine einflussreiche religiöse Zeitschrift mit dem bezeichnenden Titel „The Truth“ heraus. Zwölf programmatische Streitschriften gegen die wissenschaftlich-kritische Auseinandersetzung mit der Bibel erschienen 1902 unter dem Titel „The Fundamentals“ und sollten Namensgeberinnen der Bewegung werden.

Das kategorische Nein zu irgendeiner anderen Bibellektüre als der wörtlichen und der unbedingte Glaube an die Unfehlbarkeit der Bibel war – und ist – denn auch die Kernüberzeugung jener fundamentalistischen Christen. Die Annahme, dass nicht jeder Satz der Heiligen Schrift als Wort Gottes über zwei Jahrtausende hinweg auch den Heutigen die Richtung weisen kann, gilt ihnen als ebenso gotteslästerlich wie den Taliban die feministische Lektüre des Heiligen Korans. Was würden sie, wenn sie sie denn kennten, etwa zur Exegese der marokkanischen Soziologin Fatima Mernissi sagen? Mernissi erklärt viele Koransuren, die Frauen zur Unterordnung unter die Männer verpflichten, als Zugeständnisse an die Einheit der „Umma“, der muslimischen Gemeinde, in der bedrohten Frühzeit des Islam – zur Umma gehörten auch krude, aber politisch wichtige Machos.

Auch der christliche Fundamentalismus machte früh Politik, meist gegen alles Moderne. Er wuchs, schreibt der Historiker Ernest R. Sandeen, „als das Zutrauen führender Protestanten zu Amerikas Rolle zu wanken begann, als sie mit sozialen Spannungen, Arbeiterunruhen und einer anschwellenden Welle katholischer Einwanderung konfrontiert waren“. Auch des Westens älteste arabische Verbündete, die saudischen Könige, haben ja ihrem Land eine der steinzeitlichsten Islam-Varianten aufgezwungen.

In Deutschland ist da unter anderem Karlsruhe vor. Die baptistischen Eltern, die das Verfassungsgericht anriefen, dürfen aus Sicht der Richter glauben, was sie wollen. In der Schule aber sollen ihre Kinder mehr als Gewissheiten bekommen.

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