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Unter dem Kreuz - Barack Obama und Angela Merkel

© Ralf Hirschberger/dpa

Deutscher Evangelischer Kirchentag: Liebe Deinen Nächsten - aber wie viele und wie lange?

Das Kirchentags-Christentum ist stark linksevangelikal geprägt. Das wird auch in der Flüchtlingspolitik deutlich. Angela Merkel hat sich längst gewandelt. Die Kirche zögert noch. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wer wissen will, wie es auf einem Kirchentag zugeht, sollte ein kleines Experiment wagen. Einfach an einen Getränkestand gehen und um einen Einweg-Plastikbecher bitten mit der Begründung, man sei zwar durstig, habe aber keine Zeit, sich später an einer Pfandrückgabe-Station anzustellen. Was darauf so sicher folgt wie der Traubensaft auf die Oblate ist ein Vortrag darüber, warum die Welt nur durch ein Pfandsystem zu retten sei, durch fairen Handel, Einsparung von Energieressourcen, regionale und saisonale Ernährung. Einweg-Plastikbecher sind des Teufels.

Drei christliche Maximen prägen den Kirchentagsgeist: Schöpfung bewahren, Frieden schaffen, den Nächsten lieben. Zur Schöpfungsbewahrung gehören Ökologie, Tierschutz und Anti-Akw, zur Friedensschaffung die Ablehnung von Militär-Interventionen, Rüstungsexporten sowie das Engagement in der Dritten Welt, zur Nächstenliebe die Geschlechtergerechtigkeit, der Gender-Stern und die Hilfe für Flüchtlinge und Verfolgte. All das wird zum Teil direkt, also ohne hermeneutische Umwege, aus der Bibel abgeleitet. Das Kirchentags-Christentum ist stark linksevangelikal geprägt, wobei mit „evangelikal“ eine vor allem verbalinspirierte Bibeltreue gemeint ist.

Das wird besonders in der Flüchtlingspolitik deutlich. Da ziehen beide christlichen Amtskirchen bis heute an einem Strang. Das Beispiel des Barmherzigen Samariters lehre uneingeschränkte Humanität, weder dürfe es Restriktionen des Asylrechts noch Obergrenzen geben. Der Fokus liegt auf dem Schutzgebot für Schutzsuchende, nicht auf der Integrationsfähigkeit der Mehrheitsgesellschaft. Die Politik hat sich von diesen Dogmen längst verabschiedet. Eine Situation wie im Herbst 2015 werde sich nie wiederholen, verspricht die Bundeskanzlerin.

Entspannt ist der Dialog mit der AfD noch längst nicht

Vollzieht die Kirche diesen Wandel nach? Das ist eine der großen Fragen, die diesen Kirchentag beschäftigen. Barack Obama sprach das Dilemma zwischen christlicher Barmherzigkeit und politischer Verantwortung offen an. „Natürlich haben Flüchtlinge allen Anspruch auf Schutz, aber wir haben auch begrenzte Ressourcen“, sagte er. Bis zur Gereiztheit verschärft wird die Lage durch die Auseinandersetzung mit der AfD. Jedes Zugeständnis an die Realpolitik könnte als Entgegenkommen an die rechtspopulistischen Mahner gewertet werden.

Haben die vielleicht doch ein bisschen Recht gehabt? Man denke an die Silvesternacht in Köln, arabischen Antisemitismus oder die jüngste Kriminalitätsstatistik. Nein, das kann, das darf nicht sein, schallt es sofort zurück. Entspannt ist der Dialog noch längst nicht.

In die Defensive geraten ist das Kirchentags-Christentum auch in globaler Perspektive. In Deutschland schrumpfen die Kirchen. Vor fünfzig Jahren gehörten 93,6 Prozent der Deutschen einer der beiden christlichen Konfessionen an, heute sind es 56,0 Prozent. Im selben Zeitraum stieg die Zahl der Konfessionslosen von 3,9 Prozent auf 36,0 Prozent. Ein starkes Wachstum dagegen verzeichnet das Christentum in Afrika und Asien. Dort aber ist es überwiegend konservativ, pietistisch und charismatisch geprägt. Aus globaler christlicher Perspektive wirkt die linksevangelikale deutsche Kirchentags-Mentalität sehr exotisch.

Die Frage, ob ein Christ in der AfD sein kann, ist fast piefig

Die Frage, ob ein Christ in der AfD sein kann, ist – gemessen etwa an der Homophobie vieler afrikanischer Christen oder der Bejahung von Todesstrafe und Waffenbesitz vieler nordamerikanischer Christen – fast piefig. „Du siehst mich“: Die Gesichter der Christen weltweit sind vor allem eines – verschieden und ganz anders.

Kirchentage sind oft inspirierend. Nach dem willkommenskulturellen Aufbruch vor zwei Jahren in Stuttgart könnte von Berlin das Signal für eine neue Demut ausgehen. „Für meinen eigenen Glauben, denke ich, ist es immer sinnvoll, auch ein bisschen Zweifel zu haben“, sagte Obama. Jeder Mensch sehe immer nur einen Teil der Wahrheit. Die Wiedergewinnung des Zweifels, der Einsicht in die Möglichkeit, dass auch der Andere plausible Argumente hat: Das klingt nach wenig und ist doch ziemlich viel.

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