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Arztbesuche: Ewig im Wartezimmer

Die Bundesbürger sind weltweit Spitzenreiter bei Arztbesuchen. Was treibt die Deutschen dorthin?

Gemessen an der Zahl ihrer Arztkontakte sind die Deutschen so krank wie kein anderes Volk. Im Schnitt saß im Jahr 2007 jeder Bundesbürger, so ergab eine aktuelle Studie der Gmünder Ersatzkasse (GEK), knapp 18 Mal im Wartezimmer – Kliniken und Zahnarztpraxen noch gar nicht eingerechnet. In nur drei Jahren stieg die Zahl der Arztbesuche folglich um weitere zehn Prozent – und das trotz Praxisgebühr, Gesundheitsaufklärung via Internet und weit niedrigerem Krankenstand als noch in den 90er Jahren.

Damit seien die Deutschen „nach verfügbaren Informationen weiterhin weltweit Spitzenreiter bei Arztkontakten“, sagte der Vorstandschef des Hannoverschen Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung, Friedrich Wilhelm Schwartz, in Berlin. Seinen Berechnungen zufolge kamen die niedergelassenen Mediziner 2007 auf insgesamt 1,48 Milliarden Patientenkontakte – das macht 5,2 Millionen Arztbesuche pro Werktag. Und fast jeder war mindestens einmal beim Doktor. Nur knapp acht Prozent der Deutschen ließen sich dort überhaupt nicht blicken.

Am häufigsten in die Arztpraxis zieht es die Deutschen übrigens am Montag. Das könne mit Erkrankungen vom Wochenende ebenso zusammenhängen wie mit der Bestellpraxis der Mediziner, sagte GEK-Vorstandschef Rolf Ulrich-Schlenker. Den einsamen Rekord hält in der Statistik dabei der 1. Oktober 2007. An diesem denkwürdigen Tag waren nicht weniger als 11,8 Prozent der Deutschen beim Arzt, das sind 9,7 Millionen Menschen.


Worauf lassen die vielen Arztbesuche schließen?

Zunächst, sagt Schlenker, auf Positives: eine hohe Arztdichte und gute Akzeptanz bei den Bürgern. Allerdings müssten angesichts der hohen Zahlen „schon Zweifel erlaubt sein, ob bei jedem Arztkontakt auch das Richtige getan wird“. Der Statistik zufolge muss jeder der 137 000 niedergelassenen Ärzte am Tag 38 Patienten behandeln. An besagtem Oktobermontag wären es sogar 70 gewesen. Bei einem Acht-Stunden-Tag bedeute dies sechs Minuten pro Patient, rechnet der Gesundheitsexperte Schwartz vor. Kein Wunder, dass die derart abgefertigten Patienten bald wieder auf der Matte stehen. Er würde sich wünschen, sagt der Professor, dass die Honorierung den Ärzten auch Anreize für längere Kontakte liefere.

Dass die Menschen häufiger erkrankten, lasse sich jedenfalls nicht erkennen, sagte Schwartz unter Berufung auf Zahlen des Robert-Koch-Instituts. Verstärkend allerdings könne der demografische Wandel wirken. Alte Menschen sind häufiger krank, und viele suchen auch, weil sie einsam sind, den Kontakt zu Ärzten.

Wer geht besonders oft zum Arzt?

Kleine Kinder und Hochbetagte. Von ihnen kommt nahezu jeder mindestens einmal im Jahr zum Arzt. Im Schnitt sind Säuglinge und Kleinkinder 15 Mal in der Praxis, alte Menschen über 85 schaffen sogar 40 Arztkontakte. Dagegen lässt sich jeder fünfte Mann zwischen 20 und 45 das ganze Jahr kein einziges Mal dort blicken. Und am seltensten konsultieren 20- bis 25-jährige Männer einen Mediziner, nämlich nur sieben bis acht Mal im Jahr. Bei Frauen ist die Quote in dieser Altersgruppe doppelt so hoch. Mit zunehmendem Alter gleichen sich die Werte zwischen der Geschlechtern allerdings an. Und was die Präferenz betrifft: Am häufigsten behandeln lassen sich die Deutschen mit Abstand von Allgemeinärzten. Es folgen Internisten, Gynäkologen, Augenärzte, Laborärzte und Orthopäden.

Im Bundesländer-Vergleich waren die Saarländer am häufigsten beim Arzt. Sie kamen im Schnitt auf 19,5 Kontakte pro Jahr. Der Durchschnitts-Sachse dagegen ließ sich nur 15,8 Mal in einer Arztpraxis sehen. Generell gehen die Ostdeutschen seltener zum Arzt als Bürger der alten Bundesländer – was einen Zusammenhang mit der im Westen meist höheren Medizinerdichte nahelegt. In Berlin wandte sich im Jahr 2007 jeder im Schnitt 18,5 Mal an einen Arzt, in Brandenburg nur 16,4 Mal.


Welche Diagnosen werden gestellt?

Am häufigsten diagnostizierten die Ärzte im Jahr 2007 bei ihren Patienten Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems, gefolgt von Atmungs- und Kreislauferkrankungen. In der Altersgruppe der 45- bis 49-Jährigen kamen männliche Patienten im Schnitt auf sechs, Frauen auf zehn Diagnosen. Bei Senioren um die 80 wurden – Experten sprechen hier von „Multimorbidität“ – pro Patient 17 verschiedene Krankheiten diagnostiziert.

Macht das System die Deutschen kränker, als sie es tatsächlich sind?

Seit Jahresbeginn wird das Geld aus dem Gesundheitsfonds über einen verfeinerten Risikoausgleich verteilt. Das Prinzip: Je kränker ihre Versicherten, desto mehr Geld erhalten die Krankenkassen aus dem gemeinsamen Topf. 80 Krankheiten wurden dafür zugrundegelegt. Um finanziell zu profitieren, versuchten die Kassen nun, Mediziner zu entsprechenden Diagnosen zu drängen, beklagte kürzlich Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe. Die GEK sieht vor allem das Problem, dass – im Schnelldurchlauf – besonders viele unspezifische geldbringende Krankheitsvarianten diagnostiziert werden. Auffallend häufig sei dies bereits bei Depressionen (5,8 Prozent der GKV-Versicherten) und Herzinsuffizienz (2,8 Prozent) zu beobachten.

Wie wollen die Kassen gegensteuern?

Insgesamt ergebe sich aus den Zahlen ein „bedenkliches Bild“, sagt Schlenker. Sie belegten „zu viele Untersuchungen, zu kurze Kontakte und zu hohe Verordnungsraten“ von Arzneimitteln. Das alles verweise auf „zusätzlichen Orientierungs- und Steuerungsbedarf“. So liegt ein Grund für die hohe Zahl der Arztkontakte auch darin, dass sich viele Patienten im Krankheitsfall nicht mit einem Mediziner zufriedengeben. Laut GEK-Report beanspruchten 54 Prozent aller Patienten 2007 Leistungen von vier oder mehr unterschiedlichen Ärzten. Freie Arztwahl dürfe nicht zu Ineffizienz führen, warnt Schlenker. Und er fordert: „Wir müssen Doppeluntersuchungen vermeiden und unnötigen Arztbesuchen vorbeugen.“ Den Schlüssel dafür sieht der GEK-Vorstandschef in flächendeckenden Hausarztsystemen, bei denen die Mediziner eine Lotsenfunktion übernehmen. Seine Kasse werde jedenfalls „konsequent“ daran festhalten und demnächst auch die letzte verbliebene Lücke, im Saarland, schließen.

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