zum Hauptinhalt
Reiner Hoffmann hat im Mai die Nachfolger von Michael Sommer als DGB-Chef angetreten.

© Mike Wolff

DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann: „Ich habe keine Angst vor handfesten Konflikten“

DGB-Chef Reiner Hoffmann spricht im Interview über den gesetzlichen Mindestlohn, die Energiewende – und darüber, wie man versteckte Kritik der Kanzlerin erkennt

Von

Herr Hoffmann, seit einem halben Jahr sind Sie Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds. Wie oft haben Sie die Kanzlerin schon getroffen?

Ich schätze, mindestens zehn bis fünfzehn Mal.

Wie kommen Sie mit Angela Merkel klar?
Frau Merkel ist sehr unprätentiös, es ist angenehm, mit ihr zu reden. Dabei muss man eines wissen: Wenn sie etwas wirklich nicht gut findet, dann sagt sie: Das ist ja eine interessante Idee.

Haben Sie das schon oft zu hören bekommen?
Bislang erst einmal. Nach dem Gespräch haben mir Insider erklärt, dass die Kanzlerin gerade meinen Vorschlag beerdigt hat.

Welche Idee war das?
Wir hatten zusammen mit den Arbeitgebern vorgeschlagen, dass sich die Anpassung des Mindestlohnes nach einem Index richten soll, der den Tariferhöhungen folgt. Das halte ich auch für sinnvoll: Der Mindestlohn sollte nicht von der Lohnentwicklung abgekoppelt werden. Den Index hat sie nicht akzeptiert, allerdings bleibt es dabei, dass die Tarifentwicklung berücksichtigt wird.

In einer Mindestlohn-Kommission sollen nun Arbeitgeber und Gewerkschaften alle zwei Jahre aushandeln, wie hoch der Mindestlohn sein wird. Anfang 2015 wird mit einem Stundenlohn von 8,50 Euro gestartet. Wann wird er das erste Mal steigen?
Die erste Erhöhung wird 2017 fällig. Zunächst war vorgesehen, dass 2018 zum ersten Mal angepasst werden soll. Wir haben gesagt, dass das früher passieren muss. Die Mindestlohn-Kommission wird im Januar 2015 zum ersten Mal tagen. Wir haben jetzt die Mitglieder benannt.

Hört die Kanzlerin meistens auf Ihren Rat?
Ich finde auf jeden Fall Gehör. Frau Merkel weiß, welchen Stellenwert Gewerkschaften in diesem Land haben. Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise hat sie ihre Position komplett verändert, von der gewerkschaftsfeindlichen CDU-Programmatik des Leipziger Parteitags 2003 ist nichts übrig geblieben.

Sie selbst sind seit 1972 Mitglied der SPD. Nach Gerhard Schröders Agenda-2010-Reformen war das Verhältnis der Gewerkschaften zu den Sozialdemokraten stark belastet. Spürt man das heute noch?
SPD-Chef Sigmar Gabriel hat auf einem Parteitag vor zwei Jahren sinngemäß gesagt, dass die Distanz, die wir in den letzten Jahren hatten, nie wieder so groß werden darf. Ich habe den Eindruck, dass er es ernst meint. Natürlich übersetzt die SPD unsere Gewerkschaftsbeschlüsse nicht eins zu eins in Gesetze. Aber sie hat in der großen Koalition den Mindestlohn und die Rente mit 63 durchgesetzt. Und der Vizekanzler ist bereit, bei so wichtigen Themen wie der Energiepolitik auch auf uns zu hören.

Inwiefern?
Wir haben davor gewarnt, vorschnell aus der Kohle auszusteigen. Wenn Deutschland ein Industrieland bleiben soll, brauchen wir eine stabile Energieversorgung. Das können die erneuerbaren Energien allein nicht leisten. Im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien und Frankreich ist bei uns der Anteil der Industrie immer noch hoch – und darin sieht sogar die OECD einen Vorteil. Dadurch haben wir bei uns viele energieintensive Betriebe wie Stahlwerke, Zementwerke und Chemiefabriken.

Aber wie soll Deutschland die Klimaziele erreichen, wenn hier weiter Kohlestrom produziert wird?
Wir stehen eindeutig zur Energiewende und auch zu den Klimazielen. Die Frage ist, wie kommen wir dahin. Der Weg kann nicht sein, dass man hier alte Kohlekraftwerke zwar schnell abschaltet, aber dafür Atomstrom aus Frankreich bezieht, oder Österreich seine ineffizienten Kohlekraftwerke erhält, um Deutschland zu beliefern. Ich verstehe auch nicht, warum in Deutschland hochmoderne Kohlekraftwerke wie Datteln, die wenig CO2 emittieren, nicht ans Netz gehen. Das ist ökonomischer und ökologischer Unfug, denn dafür könnte man alte Kraftwerke mit hohen Emissionen abschalten.

Die große Koalition hat in ihrem ersten Jahr den gesetzlichen Mindestlohn und die Rente mit 63 beschlossen. Sie können zufrieden sein, oder?
Zeigen Sie mir mal einen Gewerkschafter, der zufrieden ist! Wie soll ich zufrieden sein, wenn Deutschland den größten Niedriglohnsektor Europas hat? Ich finde es fatal, dass sich in Europa eine Austeritätspolitik durchsetzt, die einzelne Mitgliedstaaten ins Koma versetzt mit 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Da ist ein Politikwechsel dringend nötig.

Welche Arbeitsmarktreformen erwarten Sie denn in dieser Wahlperiode noch?
Der massive Missbrauch von Leiharbeit muss eingedämmt werden. Wenn ein Unternehmen Leiharbeiter einsetzt, um Auftragsspitzen abzufedern, habe ich nichts dagegen. Aber wenn Leiharbeit zum Lohndumping genutzt wird, wehren wir uns. Wenn Betriebe 20 Prozent Leiharbeiter oder mehr beschäftigen, stimmt etwas nicht. Wir erwarten, dass der Gesetzgeber das deckelt. Mich treibt außerdem noch ein Thema um. Ich wünsche mir von der Regierung ein neues Humanisierungsprogramm in der Arbeitswelt.

Das müssen Sie uns erklären.
Wir müssen Arbeit wieder so gestalten, dass Arbeitnehmer länger gesund durchs Berufsleben kommen. In den 70er Jahren ging es darum, Belastungen durch Lärm, Last und Staub zu reduzieren. Heute gibt es andere Belastungsfaktoren. Arbeitszeiten sind zu starr, Wissen veraltet schneller, wir müssen Belastungen durch Stress verringern.

Aber was kann die Politik da tun?
Kleine und mittlere Betriebe bekommen so einen Wandel nicht alleine gestemmt, sie brauchen Hilfe. Von der Bundesregierung erwarte ich deswegen, dass sie arbeitswissenschaftliche Forschungs- und Aktionsprogramme auflegt.

Gleichzeitig setzt sich der DGB dafür ein, dass Arbeitnehmer mit 60 Jahren in Rente gehen können. Wie passt das zusammen?
Kein Mensch will die Rente mit 60. Da sind wir absichtlich falsch verstanden worden. Wir wollen, dass Leute mit bestimmten Belastungen früher ihre Arbeitszeit reduzieren können. Ein Beispiel: In der Industrie arbeiten viele Beschäftigte in Wechselschicht, das hält man nicht bis zum Rentenalter durch. Wir haben angefangen, die Arbeitszeiten von Schichtarbeitern ab dem Alter von 55 Jahren auf vier Tage zu reduzieren. Tarifvertraglich haben wir geregelt, dass sie dabei nicht auf Geld verzichten müssen. Aber diese Regelungen reichen nicht aus.

Ist es für den Staat nicht unbezahlbar, solche Übergänge zu finanzieren?
Heute arbeiten nur 50 Prozent der über 60-Jährigen. Wenn wir mit flexiblen Teilzeitmodellen dafür sorgen können, dass die Menschen länger arbeiten, zahlen sie auch länger Steuern und Sozialabgaben. Das lohnt sich auf jeden Fall.

Kommen wir zum DGB. Ist die Zeit der gewerkschaftlichen Solidarität zu Ende?
Nein.

Aber ist es nicht unsolidarisch, wenn kleine Berufsgewerkschaften versuchen, ihre Partikularinteressen durchzusetzen?
Ich halte es für problematisch, wenn bestimmte Berufsgruppen ihre Macht nutzen, um ihre partikularen Interessen gegen das Gesamtinteresse einer Belegschaft durchsetzen. Wir wollen keinen Wettbewerb der Beschäftigten untereinander. Das Prinzip „ein Betrieb, ein Tarifvertrag“ halte ich für richtig.

Leidet der Ruf der Gewerkschaften insgesamt, wenn die Lokführer mit ihren Streiks den gesamten Bahnverkehr lahmlegen?
Natürlich bekommen wir ein Imageproblem. Die meisten wissen nicht einmal, dass die Gewerkschaft der Lokführer zum Beamtenbund gehört und nicht zum Deutschen Gewerkschaftsbund. Wir werden alle in einen Topf geworfen. Ich bin nicht bereit, diesen Imageschaden in Kauf zu nehmen.

Wie wollen Sie verhindern, dass Berufsgewerkschaften ihre Einzelinteressen durchsetzen?
In den meisten Fällen bilden wir ja schon Tarifgemeinschaften..

… das heißt, in einem Unternehmen verhandeln verschiedene Gewerkschaften gemeinsam ...

In 90 Prozent der Fälle mit dem Beamtenbund machen wir das genauso. Aber das gelingt nicht immer. Bei der GdL standen machtpolitische Interessen im Vordergrund. In solchen Fällen halte ich es für sinnvoll, wenn der Tarif der Mehrheitsgewerkschaft Vorrang hat.

Die Regierung will das Prinzip „ein Betrieb, ein Tarifvertrag“ gesetzlich verankern. Drei der acht DGB-Mitgliedergewerkschaften lehnen das Vorhaben ab, weil sie einen Eingriff ins Streikrecht fürchten. Wie groß sind die Fliehkräfte im DGB?
Ich verstehe die Aufregung nicht. In der Geschichte der Gewerkschaften gab es immer wieder Streit über das richtige Organisationsmodell. Ich habe keine Angst vor handfesten Konflikten.

Vom Apparatschik zum Hoffnungsträger

Der 1955 in Wuppertal geborene Reiner Hoffmann hat fast sein ganzes Berufsleben als Funktionär verbracht. Er war Abteilungsleiter der Hans-Böckler-Stiftung, Direktor des Europäischen Gewerkschaftsinstituts, Bezirksleiter Nordrhein der IG Bergbau, Chemie, Energie und SPD-Mitglied sowieso. Seit dem 12. Mai 2014 hat Hoffmann die Nachfolge von Michael Sommer als DGB-Chef angetreten. Sein Auftrag: Die Gewerkschaften wieder beliebter machen. Zwar haben in Deutschland immer mehr Menschen Arbeit, doch immer weniger sind gewerkschaftlich organisiert. Noch vertritt der DGB ungefähr sechs Millionen Mitglieder. Tendenz sinkend.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false