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Politik: Die Angst, dass nichts bleibt

EUROPAS ZUKUNFT

Von Christoph von Marschall

Der Champagner ist kalt gestellt, die Medien präsentieren in Sonderserien die zehn Länder, die in zehn Tagen der EU beitreten. Europa bereitet sich auf ein stolzes Fest vor. 59 Jahre nach dem Weltkrieg wird die widernatürliche Teilung des Kontinents überwunden, wächst zusammen, was zusammengehört. Ein Spielverderber, wer diesen historischen Moment stören möchte?

Dunkle Wolken ziehen auf, von Ost und von West. Tony Blair will die Briten über die EU-Verfassung abstimmen lassen – was dem Projekt leicht den Todesstoß versetzen könnte. Im Osten überraschen gleich mehrere neue Mitgliedstaaten mit beunruhigenden Anzeichen politischer Instabilität. Und wer nicht in die Festreden, sondern in die Umfragen schaut, wird feststellen: Die Bürger der alten EU betrachten die Erweiterung mit großer Skepsis, am stärksten ist die Ablehnung in Frankreich, Belgien, Luxemburg und Deutschland, deren Regierungen so gerne Europas Avantgarde wären.

Noch ist Europa durch eine Mauer der Nichtwahrnehmung geteilt. Wie wird die Stimmung erst sein, wenn die Menschen im Westen hinschauen müssen, was sich bei den neuen Partnern tut – weil die nun auch zur EU gehören? Der neue Präsident der Slowakei ist seit dem Wochenende ein europafeindlicher Populist, Ivan Gasparovic. Dass er Wladimir Meciar besiegte – den Mann, der das Land in den 90er Jahren ins internationale Abseits geführt hatte –, ist kein Trost. Gasparovic kommt aus der gleichen Partei. Was geht in einem Volk vor, dass kurz vor dem EU-Beitritt keinem der weltoffenen Kandidaten genug Stimmen für die Stichwahl gibt?

In Polen hat die Linksregierung abgewirtschaftet, am 2. Mai tritt Premier Leszek Miller endlich zurück. Schlimm nur, dass keine handlungsfähige Alternative in Sicht ist, nicht einmal nach Neuwahlen. Eine starke bürgerliche Rechte fehlt, der Volkszorn über Korruptionsskandale und verfehlte Reformversuche der Linken nützt nationalpopulistischen Stimmenfängern, die vernünftige Koalitionsbildungen blockieren. In Litauen musste Präsident Rolandas Paksas abtreten: wegen zu enger Kontakte zu einem russischen Geschäftsmann mit Verbindungen zur Mafia und Moskaus Geheimdiensten.

Ist die Ost-Erweiterung also ein Fehler? Stößt die EU zugleich im Westen an die Grenze weiterer Vertiefung, weil Großbritannien Nein sagt? Und verlieren die Menschen den letzten Glauben an den Sinn weiterer europäischer Integration, weil sie die EU als Inbegriff von Streit, Blockade und Bürgerferne wahrnehmen? Jedenfalls wächst die Gefahr, dass solche Stimmungen dominieren. Dann werden sie zu politischen Faktoren, die den weiteren Gang bestimmen.

Wäre diese Entwicklung wünschenswert – und trifft dieses Bild von Europa überhaupt die Wirklichkeit? Teils, teils. Die EU hat sich in den letzten zwölf Jahren rasanter entwickelt, als sie es verkraften kann: Binnenmarkt, Wegfall der Grenzkontrollen, Erweiterung um Finnland, Österreich, Schweden, politische Union, gemeinsame Währung, Grundrechtecharta, Verfassungsdebatte und jetzt die große Erweiterung. Das alles will verdaut sein. Das neue Europa wird sich erst einmal konsolidieren müssen, weitere große Herausforderungen in nächster Zeit würden die Bürger und die EU überfordern.

Die Erweiterung ist die richtige und zwingende Folge der Selbstbefreiung Ostmitteleuropas von der Diktatur. Aber mit dem Beitritt der Neuen ist sie politisch noch lange nicht gewonnen. Der 1. Mai ist kein Schlusspunkt, sondern Beginn der Bewährung. In den Köpfen ist Europa weiter geteilt. Im Westen denken viele, die Erweiterung sei ein großzügiges Geschenk, über das die im Osten sich bestimmt sehr freuen. Vor lauter Sorge um den eigenen Wohlstand und Angst vor Jobkonkurrenz wird übersehen, dass die Furcht, im Wettbewerb nicht bestehen zu können, bei den Neuen noch viel größer ist. Deshalb sind manche Staaten derzeit so anfällig für Populisten. Gelingt es, die Erweiterung zum Gewinn für alle Seiten zu machen, wird der Spuk rasch enden. Dafür brauchen die Neuen partnerschaftliche Hilfe auf allen Ebenen.

Und Tony Blair? Der muss die zweifelnden Briten von Europa überzeugen – wie die übrige EU ihre skeptischen Bürger. Dafür reichen selbst die schönsten historischen Stunden nicht. Dafür sind Erfolge im Alltag nötig. An die Arbeit!

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