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Politik: Die Basis und andere Besitzstände

DER GRÜNEN-PARTEITAG

Von Bernd Ulrich

Die wichtigste politische Frage, die das Land zurzeit bewegt, lautet: Wie reformwillig sind die Deutschen, wie viel Risiko sind sie bereit einzugehen, welche Opfer kann man ihnen zumuten. Unglücklicherweise bekommt man das weder über demoskopische Lippenbekenntnisse heraus, noch über Sonntagsreden, sondern nur in zugespitzten, exemplarischen Situationen, bei denen es wirklich um etwas geht.

So eine Situation erlebten die Grünen auf ihrem Parteitag in Hannover. Es war die Nacht vom Samstag auf den Sonntag, die Nacht der langen Gesichter. Den bewährten Vorsitzenden Fritz Kuhn und Claudia Roth hatte die Basis eine erneute Kandidatur verbaut, weil sie wieder einmal auf der strikten Trennung von Amt und Mandat bestand. Da die Führung für diesen Fall keinen Plan B hatte, war alles mit einem Mal offen, eine wahrheitsschwangere Nacht. Die Chance war da für talentierte und erfahrene Grüne, einen hoch interessanten, aber riskanten Job zu übernehmen, sich in die Verantwortung für die Partei zu stellen, eine Karriere einzuschlagen wie zuvor Renate Künast, Fritz Kuhn und Claudia Roth. Alle drei sind erst über den Parteivorsitz – auch ohne Bundestagsmandat – zu BigShots der Politik geworden.

Doch siehe da: In der Partei, die sich als Reformmotor begreift, die von den Deutschen Verzicht und Opferbereitschaft fordert, fand sich kein einziger Hoffnungsträger, der dazu bereit gewesen wäre. Die Ausreden liefen überwiegend auf das hinaus, was man heute Besitzstandswahrung nennt. Den Einkommensverzicht wollte man nicht hinnehmen, die Arbeitsbedingungen seien unkomfortabel, und: Wer weiß, ob das gut geht. Matthias Berninger etwa, der 31-jährige grüne Staatssekretär, der sich noch nie an einem Parteiamt die Finger schmutzig gemacht hat, weigerte sich rundheraus, aus seinem politischen Whirlpool zu steigen. Ohne Dienstwagen, ohne genügend Untergebene, ohne Erfolgsgarantie scheint ihm Politik gar nicht möglich zu sein. Ein erstaunlicher, verwöhnter Trotz herrschte in Hannover vor, besonders, wenn man bedenkt, in welcher Lage sich das Land und die rot-grüne Koalition befinden. Brennen die noch für Politik?

So wurden dann zwei Vorsitzende gewählt, die nicht als erste, nicht als zweite und auch nicht als achte gefragt worden sind und die ihr Amt mit einem Misstrauensvorschuss antreten. In einem halben Jahr, wenn die Urabstimmung über Amt und Mandat gelaufen ist, werden die Karten neu gemischt.

Mit all dem haben sich die Grünen politisch geschwächt. Sie verfügen zurzeit über kein zuverlässiges Machtzentrum. Die neuen Vorsitzenden starten als Verlegenheitslösung, die alten sitzen grummelnd in der Fraktion, die neuen Fraktionsvorsitzenden müssen erst noch Gewicht bekommen – und der heimliche Chef Joschka Fischer wird nun erst recht zum unheimlichen Vorsitzenden. Dank verschärfter Basisdemokratie. Dieser neue Zugewinn an Macht hilft aber auch ihm wenig. Denn ihm fehlt die Zeit. Außenminister zu sein ist auch dann kein Nebenjob, wenn es der Partei schlecht geht. Man könnte die Angelegenheit folkloristisch sehen. Schließlich waren die Grünen immer so und haben es ja doch irgendwie überlebt. Jetzt allerdings regieren sie. Ihre Eskapaden sind keine bloß innere Angelegenheit, sie betreffen alle Bürger.

Was sind die Aufgaben der Partei? Sie muss helfen, das Chaos in der Koalition zu bekämpfen – und schwächt ihre Ordnungskraft. Sie muss gegen Teile der SPD und der eigenen Basis eine Reform des Sozialsystems und des Arbeitsmarkts vorantreiben – und bringt mit ihrem Parteitag die gebeutelten Genossen endlich mal wieder zum Lachen. Sie müsste sich als Alternative zur kriselnden FDP präsentieren und auf mittlere Sicht eine schwarz-grüne Perspektive eröffnen – und verplempert politische Energie durch innere Reibereien.

Zumindest vorerst. Der neue Vorstand kann sich fangen, irgendwann. Und auch dieser Parteitag wird einst zur Randnotiz herabsinken. Doch haben die Grünen an diesem Wochenende etwas sehr wertvolles verloren: Zeit.

Man riskiert viel, wenn man den Besitzstand wahren will. Das war es wahrscheinlich, was die Grünen den Leuten zeigen wollten.

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