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Politik: Die Beweglichkeit der Landschildkröte

Von Merkel nichts Neues: Schon vor mehr als 40 Jahren war in Westdeutschland Bildungskatastrophe. Getan wird jetzt – wenig

Am 60. Jahrestag der Währungsreform hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die soziale Marktwirtschaft neu interpretiert: „Wir müssen die Bildungsrepublik Deutschland werden.“ Das klingt revolutionär. Aber wer die Bildungsgeschichte kennt, erlebt ein Déjà-vu.

Deutschlands bekanntester Soziologe der Gegenwart, Ralf Dahrendorf, schrieb schon 1965: „Die Bundesrepublik Deutschland kann als eine freie Gesellschaft nur bestehen, wenn sie dem Wunder des wirtschaftlichen Aufstiegs eine Politik der Entwicklung ihres Bildungswesens folgen lässt.“ In der Regierungserklärung von 1963 heißt es: „Es muss dem deutschen Volk bewusst sein, dass die Aufgaben der Bildung und Forschung für unser Geschlecht den gleichen Rang besitzen wie die soziale Frage für das 19. Jahrhundert.“

Was war so dramatisch, dass die Bildungspolitik auf die Prioritätenliste zu rücken schien? Die Sowjetunion hatte 1957 den Sputnik, den ersten Satelliten, in den Weltraum geschickt; der Westen wollte dem sowjetischen Vorsprung mit Bildungsinvestitionen begegnen. Deutschland lag damals schon weit zurück. Die Bundesrepublik führte nur 6,8 Prozent eines Geburtsjahrganges zum Abitur. Die OECD sagte voraus, dass in den siebziger Jahren die Quote in Westeuropa bei 15 bis 20 Prozent liegen würde.

Der Rückstand der Bundesrepublik wurde zum Problem: Seit 1961 gab es einen Babyboom mit sechs Millionenjahrgängen. Sie mussten mit Lehrern und Studienplätzen versorgt werden. Georg Picht rief 1964 die „Bildungskatastrophe“ aus. Wegen der wenigen Abiturienten wurden damals nur 384 000 Studenten gezählt. Heute sind es 1,9 Millionen. Es gab also genügend Gründe für eine langfristig angelegte, konsistente Bildungsexpansion. Aber die kurze Phase einer von allen Parteien gewollten Bildungsexpansion ging schon nach der Ölkrise von 1973 zu Ende. Im selben Jahr scheiterte die Idee, für Deutschland einen Bildungsgesamtplan zu beschließen. Die CDU wollte sich nicht von der sozialliberalen Mehrheit Gesamtschulen als Regelschulen einhandeln. Seitdem herrschte in der Kultusministerkonferenz ein Bildungsbürgerkrieg – bis kurz vor der Wiedervereinigung.

Vor diesem Hintergrund war die große Bildungsexpansion in Zahlen beeindruckend, aber nicht in der Qualität. Heute werden 30 bis 40 Prozent eines Jahrgangs zum Abitur geführt. Nach der Regierungserklärung der großen Koalition sollen anschließend 40 Prozent studieren. Aber die deutsche Bildungspolitik ist unberechenbar geblieben. Wenn es keinen Ministerpräsidenten oder Bundesbildungsminister gibt, der Bildung und Wissenschaft als Investitionen in die Zukunft begreift, blieb und bleibt die Bildungspolitik den Finanzministern überlassen. Dennoch watschte Altbundeskanzler Helmut Kohl die Kultusministerkonferenz ab: Ihr Entscheidungstempo gleiche dem einer Landschildkröte.

Reformen dauern in Deutschland Jahrzehnte. Schon 1972 hatte die OECD von den Westdeutschen einschneidende Reformen gefordert. Die OECD empfahl den Aufbau von Ganztagsschulen. Erst 30 Jahre später legte die Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) gegen den Widerstand der Union ein mit vier Milliarden Euro ausgestattetes Ganztagsschulprogramm auf. Die andere Forderung der OECD von 1972 wurde ebenfalls erst 30 Jahre später wirklich aufgegriffen: Nicht mehr die Schulverwalter in den Ministerien sollten die Curricula mit ihren Ideen von einer idealen Bildungswelt vollstopfen. „Die notwendigen Veränderungen müssen weitgehend auf der lokalen Schulebene, wenn nicht sogar durch Schule und Lehrer selbst geschaffen werden.“ Ebenfalls der OECD verdanken die Deutschen den geschärften Blick auf die Vernachlässigung der Ausländer und der Kinder aus der Unterschicht.

Auch in den Hochschulen dominierte der Zickzack-Kurs. Die Millionenjahrgänge sollten nach 1977 nicht vor weitgehend verschlossenen Hochschulen stehen. Statt aber die Studienplätze mit Milliardenaufwand zu vermehren, setzten die Politiker auf Öffnung der Hochschulen, was in Wahrheit auf eine „Untertunnelung des Studentenbergs“ hinauslief. Denn den Millionenjahrgängen folgte der „Pillenknick“. Die Folge war der Absturz in die Massenuniversität. Eine Lücke von sieben Milliarden Mark tat sich auf. Den Politikern dämmert bis heute nicht, dass neben der Forschung auch eine gute Lehre viel Geld kostet.

Deutsche Politiker lieben den Blick nach Amerika. Ein Vergleich zeigt die Unsinnigkeit: Die Harvard University hat einen Jahresetat etwa von 2,4 Milliarden Dollar und lässt nur 18 000 Studenten zu. Die Freie Universität Berlin muss mit 372 Millionen Euro auskommen und 34 000 Studenten ausbilden. Auf dem Bildungsgipfel im Herbst wird sich zeigen, ob für die von Angela Merkel ausgerufene Neuorientierung der Atem reicht. Denn gleichzeitig müssten dann die positiven Ansätze einer besseren Kinderbetreuung, die Fortsetzung des Hochschulpakts und des Elitewettbewerbs besiegelt werden.

Uwe Schlicht

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