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Politik: Die Elite krabbelt noch

Von Anja Kühne

Wenn die OECD zum Flug über die Bildungslandschaft ihrer Mitgliedstaaten startet, dann müssen sich die Deutschen auf Kritik gefasst machen. Auch in ihrem jüngsten Report „Bildung auf einen Blick“ sehen die Forscher wieder etliches, das ihnen nicht gefällt: Ein dramatischer Mangel an gut ausgebildeten Kräften droht, doch das Land gibt nicht genug für Bildung aus, gerade für kleine Kinder. Und viel zu wenig Schüler machen Abitur, beklagen die Wissenschaftler. Die Bilanz lautet: Deutschland läuft Gefahr, abgehängt zu werden – die Politiker reformieren zu langsam und ohne „strategische Vision“, sagt der OECDExperte Andreas Schleicher. Haben die Deutschen wirklich nichts gelernt aus dem Pisa-Schock und anderen Studien?

Zu kollektivem Trübsinn besteht kein Anlass. Es gibt im Gegenteil viele Anzeichen, die Hoffnung machen. Die meisten Daten, auf die die OECD sich stützt, stammen noch aus den Jahren 2001 und 2002, als der Pisa-Schock Deutschland erschütterte. Vieles, was sich inzwischen verändert hat, konnte die Studie überhaupt noch nicht abbilden. So schlagen die vier Milliarden Euro nicht zu Buche, die die Bundesregierung für das Ganztagsschulprogramm ausgibt. Auch entlassen die Schulgesetze der Länder erst jetzt die Schulen nach und nach in größere Autonomie. Neue Maßnahmen zur Qualitätssicherung wie die nationalen Bildungsstandards und die nationale Bildungsberichterstattung beachtet die Studie ebenso wenig. Und die Effekte, die man sich von den neuen Bachelor- und Masterstudiengängen erhofft, sind noch nicht messbar: kürzere Studienzeiten und mehr Absolventen – was das Interesse am Studium unter jungen Leuten weiter steigern dürfte.

Im Übrigen enthält bereits diese OECD-Studie auch Erfolgsmeldungen. Die Zahl der Ausländer, die in Deutschland studieren, ist besonders hoch. Umgekehrt gehören deutsche Studierende zu den mobilsten der Welt. Ein Drittel aller Hochschulabsolventen beenden ihr Studium in einem natur- oder ingenieurwissenschaftlichen Fach. Da führt Korea vor Deutschland. Schließlich: Die jungen Frauen haben im Bildungswesen die Männer eingeholt.

Natürlich hat Deutschland noch sehr viel bei der Reform zu leisten. Es muss sich dazu durchringen, seine finanziellen Mittel für die Bildung deutlich zu erhöhen – zum Beispiel, indem es die Subvention der Eigenheimzulage auf dieses Zukunftsgebiet umlenkt, wie die Regierung es vorschlägt. Es muss seinen Lehrern zur Seite stehen, ihnen mit mehr Schulpsychologen und Sozialpädagogen helfen. Es muss den pädagogischen Wandel in die Krabbelgruppen und in die Klassenräume hineintragen.

Auch und gerade in das Gymnasium. Die OECD-Experten und die Bundesbildungsministerin würden es am liebsten abschaffen. Das Gymnasium ist aber fest in der deutschen Bildungstradition verwurzelt, aus guten Gründen. Also geht es darum, auch dort eine andere Mentalität zu schaffen. Die Gymnasien müssen sich ebenfalls viel mehr um schwächere Schüler kümmern. Die Gesellschaft kann es sich nicht länger leisten, auf Spätentwickler zu verzichten, die schon nach dem Probehalbjahr an die Realschule verwiesen werden. Nur zwei Fünfen sollen dazu in Berlin vom nächsten Jahr an reichen. Was die Schule tun kann, um den Schüler doch noch zum Abitur zu führen, wird nicht gefragt – ein pädagogisches Armutszeugnis.

In Zukunft müssen Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien eine echte Chance bekommen, Rückstände aufzuholen. Die Voraussetzungen hierfür zu schaffen, ist nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, an der es dem deutschen Bildungswesen bislang mangelt. Es geht um noch mehr. In diesen Schichten ruht das Potenzial, das Deutschland in Zukunft ausschöpfen muss. Deshalb hängt so viel von guten Kindergärten ab. Jeder, der zurückbleibt, kann für die Gesellschaft zu einer schweren Belastung werden. Und jeder, der vor sozialer Verwahrlosung bewahrt wird, zu einem großen Gewinn. Wenn das in Deutschland verstanden wird, dann fällt das Ergebnis der nächsten Erkundungsflüge der OECD bestimmt besser aus.

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