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Politik: Die EU und die Türkei müssen jetzt dringend mit umfassender Kooperation beginnen (Kommentar)

Wären Staaten Menschen, dann wäre es einfacher. Dann könnte man ihnen, wenn sie sich immer nur alles übelnehmen, Missverständnisse und enttäuschte Hoffnungen vorhalten, raten, einander aus dem Weg zu gehen.

Wären Staaten Menschen, dann wäre es einfacher. Dann könnte man ihnen, wenn sie sich immer nur alles übelnehmen, Missverständnisse und enttäuschte Hoffnungen vorhalten, raten, einander aus dem Weg zu gehen. Zumindest vorübergehend. Oder sie sollten sich wenigstens gründlich aussprechen: über unterschiedliche Wertvorstellungen und Erwartungen. Das erspart den Therapeuten. Ja, wenn Staaten Menschen wären. . .

Sind sie aber nicht: In diesen Tagen der Vorwürfe über unzureichende Hilfe für türkische Erdbebenopfer, überzogene Ansprüche und Undankbarkeit könnte man tatsächlich den Eindruck gewinnen, die Beziehung zwischen der Türkei und Europa, speziell Deutschland, sei zerrüttet. Und zwar noch ehe überhaupt eine richtige Beziehung daraus werden konnte.

Türkische Frustrationen über das langsame Tempo der EU-Integration und gebrochene Zusagen sind nachvollziehbar. Nicht weniger verständlich ist der Ärger westlicher Helfer angesichts der provokanten These des türkischen Gesundheitsministers Osman Durmus, westliche Erdbebenhilfe sei überflüssig; damit nämlich versuchte er von der eigenen Unfähigkeit zu effektivem Katastrophenmanagement abzulenken. Oder die Sprachlosigkeit von Millionen Spendern und Steuerzahlern über das Gemaule mancher Vertreter der türkischen Gemeinde, die deutsche Hilfe sei "unwürdig".

So nötig es wegen dieser Lage vielleicht wäre - Europa und die Türkei, Deutschland und die Türkei können sich nicht aus dem Wege gehen. Sie sind ja Staaten, sie müssen aufeinander zugehen. Noch viel mehr als bisher sogar, wohl wissend, dass Frustrationen dabei nicht seltene Ausnahmen, sondern ständige Begleiter sein werden. Die Missstimmungen rund um die Erdbebenhilfe haben nur einmal mehr illustriert, wie unterschiedlich politische Kultur und gesellschaftliche Mechanismen westlich des Balkan und östlich des Bosporus sind. Dennoch bemisst sich der Wert der Türkei für Europa, für Deutschland nicht nach den Kriterien für andere Erweiterungskandidaten: Was bringt ein Partner ein an Wirtschaftskraft, innerer Stabilität, politischer Kompetenz? Von einem EU-Beitritt der Türkei wird zwar noch lange keine Rede sein können; gleichwohl ist das Land ein unersetzlicher Stützpfeiler für den Westen. Für die USA, mehr noch aber für Europa, denn das bekäme als erstes die Folgen zu spüren, wenn dieser Pfeiler wegbräche.

Würden die Folgen des Erdbebens die Türkei in eine quälend lange Wirtschaftskrise stürzen, wäre der gesamte Raum vom östlichen Mittelmeer bis zum Persischen Golf betroffen. Ob Zypern, Kaukasus, Kurdengebiet, Syrien, Irak, Iran - die Entwicklung in allen diesen Gebieten steht in engster Wechselbeziehung mit dem inneren Zustand eines Staates: der Türkei.

Insofern gibt es hier doch eine Parallele zum menschlichen Leben. Die Rolle der Türkei für die Stabilität an der südöstlichen Aussengrenze der EU gleicht der Bedeutung der Gesundheit: Man nimmt sie als selbstverständlich hin, bis plötzlich kein Verlass mehr auf sie ist. Das wirft dann alle Planungen über den Haufen. Deshalb darf dieses Erdbeben nicht nur Anlass für ein paar rasch zusammengeschusterte Nothilfe- und Wiederaufbau-Programme sein. Es muss zum Ausgangspunkt für einen erneuten Anlauf zu umfassender Kooperation werden. In einer Hinsicht sind die Bedingungen sogar besser als zuvor. Auch Griechenland, das bisher mit seinem Veto immer wieder EU-Vorhaben zu Fall brachte, streckt seine Hand zur Hilfe aus. In den Nato-Kommandos ist neuerdings Entspannung anstelle altgewohnter Kriegsgebärden in der Ägäis zu bemerken.

Die unbeirrbare Bereitschaft zur Partnerschaft ist die beste Therapie für die Türkei und Europa. Zehntausendfache private Hilfe wird sie verstärken, mehr als alle Lippenbekenntnisse über die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa.

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