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Politik: Die Flagge weht freier

Gerhard Schröder hat den Deutschen ein neues Selbstwertgefühl gegeben – in Ost und West können sie gemeinsam zurückblicken

Es ist ein anderes Deutschland, in dem wir heute leben, heute am 9. November, dem Tag, der sich wie kein zweiter mit bedrohlicher Regelmäßigkeit in die Geschichte des Landes eingeschrieben hat. Es ist kein ganz plötzliches Anderssein, aber doch ein überraschend spürbares: Deutschland hat ein neues Selbstwertgefühl und damit eine neue innere Stabilität, eine neue Verlässlichkeit bekommen.

Ja, schon vor zwei Jahren stand Gerhard Schröder, am 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands, als „Bundeskanzler eines anderen, freien … Deutschlands“ da und sprach in Polen – in Polen, dem schwierigen Nachbarland – davon, wie sehr sich Deutschland geändert habe. Immer wieder haben wir von ihm gehört, was sich in den Jahren der Nachkriegszeit entwickelt habe, dass die Deutschen die Vergangenheit nicht bewältigen könnten, sich aber mit ihr auseinandergesetzt hätten. Deutschland ist anders geworden, davon war Schröder überzeugt. Er erklärte warum, immer wieder. Auch das ist Vergangenheit.

Warum Deutschland aber heute, nicht vor zwei Jahren, sondern heute 2006, so anders ist und was das mit der Einheit zu tun hat, das ist doch wieder eng mit Schröder, dem Kanzler, verbunden. Hier findet sich sogar sein größtes Verdienst: Er hat Deutschland geholfen, Selbstsicherheit zu gewinnen, ein (Selbst-)Wertgefühl, das es viele Jahre nicht hatte und nicht haben durfte. Dieses neue deutsche Gefühl ist kein „Schaut her, wir sind wieder wer“, kein lautes Brustkastengetrommel, kein falscher Ton. Nur das gesunde Empfinden eines Landes, das verstanden hat, sich mit den Dingen zu beschäftigen, um es besser zu machen – und sich ab und an über sich selbst zu freuen. Schröder hat das zu einem Zeitpunkt erkannt, als niemand darüber diskutieren wollte. Das geben seine Reden schon her: Er hat geglaubt, dass es für Deutschland notwendig wäre, freier, das heißt selbstbestimmt mit der Vergangenheit, umzugehen. Da braucht es kein großes und manchem unheimliches Wort wie Nationalbewusstsein. Selbst der Begriff Patriotismus trifft es nicht. Es ist mehr ein Selbstverständnis, und zwar ein zunehmend gemeinsames in Ost und West. Wir beginnen, uns selbst zu verstehen. Und wir teilen das dabei entstehende Gefühl. Ein Anfang.

Einen Schub hat dieses Gefühl durch den vergangenen Sommer bekommen. Der hat das Land verändert, und jeder konnte es sehen. Das Pathos des Alltags: Es hat die Deutschen einander näher gebracht, in jeder Stadt, nicht nur die Leipziger den Hamburgern, aber auch das. Der Sommer hat eine Vorstellung von Gemeinschaft im besten, nicht im politisch- romantischen Sinne hinterlassen. Etwas, das ein Film wie Sönke Wortmanns sofort heraufbeschwören kann, das im Innern also noch da ist. Es wäre nie in dieser Weise aufgekommen, hätten sich die Fußballer in einem anderen Land getroffen. Es musste hier passieren, vor unser aller Augen und Ohren, zum Anfassen nah. Damit wir es glauben. Die Bilder der Straßen und Plätze in Deutschland, die gefüllt waren mit Fans, sie kamen aus dem ganzen Land, nicht nur aus den alten Bundesländern. Da ging es nicht um die Welt, die zu Gast bei Freunden war, sondern um die Freunde selbst.

Auch daran hat Schröder seinen Anteil. Denn neben dem Kaiser hat der Kanzler die Fußball-WM 2006 nach Deutschland geholt. Und erstaunlicherweise verhältnismäßig wenig darüber geredet. Sicher, das Timing – die Bundestagswahl hätte ja erst 2006 stattfinden sollen – war für die eigenen Zwecke brillant. Was kann einfacher Zustimmung erzeugen als ein Event, das gute Laune bringt? So einfach ist es dann schon auch. Dass wir in Ost und in West gleichermaßen Freunde waren, hat uns die WM gebracht. Übers internationale Renommee und wirtschaftliche Komponenten hinaus ist das der Ertrag für die lange geteilte Nation: Gemeinschaft. Etwas, das 16 Jahre Einheit nicht schafften oder was so eben auch erst nach Jahren möglich war. Kohl, der zwar die historische Chance nutzte, die ihm die Bürger in Leipzig, Berlin und anderen Städten, aber auch die Ostpolitik Willy Brandts und Egon Bahrs erarbeitet hatten, konnte das Land politisch einen. Gleichzeitig wurde es ihm dadurch unmöglich, die Deutschen miteinander zu verbinden. Zu viel an Versprechungen, zu viele Worte von blühenden Landschaften und das bewusste Verschweigen der Lasten, verstärkten die Enttäuschung, das gegenseitige Nichtverstehen und damit die Gegensätze in Ost und West. Kohl musste nach außen davon überzeugen, dass von Deutschland keine Gefahr mehr ausgehen werde. Musste den Margaret Thatchers dieser Welt erklären, dass eine Wiedervereinigung keine Rückeroberung bedeute. Damit konnte er das alte Bild der Vergangenheit überantworten, aber nicht parallel ein neues entwerfen. Für so etwas braucht es Zeit, braucht es Generationen. Wenn Kohl ein Baumeister des Friedens war, wie Peter Boenisch schrieb, dann ist Schröder – was? Sein Innenminister?

Und, ist das nun zu viel an Selbstbewusstsein? Die Flaggen, die Lieder, die Trikots? Sind wir jetzt deshalb „deutscher“ als vorher? Eher wohl im Thomas Mann’schen Sinn europäischer in unserem Deutschsein, bei all der Multikulturalität im Feiern. Wollen wir auf einmal herzlich gern unserem Vaterland opfern, mehr als eh auf dem Steuerzettel steht? Hören wir auf, über das angeblich schlechte Wetter im Norden, die kapitalistischen Unternehmer, den zu lauten Nachbarn oder den Taxifahrer zu schimpfen? Ist das Glas auf einmal halb voll? Doch eher nicht. Das ist der Bericht zur Lage der Nation nach diesem Sommer: Es gab eine Zeit, in der all dieses keine Anlässe für schlechte Laune waren.

Johannes Rau hat sich zu Beginn seiner Amtszeit als Bundespräsident gewünscht, die Deutschen sollten nie mehr Nationalisten sein, immer Patrioten und gute Nachbarn. Daran gemessen ist sein Wunsch in Erfüllung gegangen. Es waren deutsche Fahnen im Spiel, aber es waren die schwarz-rot-goldenen, die von Weimar, von Hambach. Die Flaggen waren wie ein Logo, sie hatten einen Wiedererkennwert wie das Posthorn auf Briefkästen, wie der Sonnenschirm der Touristengruppenführer: Hier entlang, hier sind sie richtig. Mit dem deutschen Patriotismus ist es nicht weiter her als vor der WM: Wir lieben unser Vaterland nicht anders und nicht stärker, vielleicht auch gar nicht. Wir haben alle nur etwas mehr von Rau und Mann und Gustav Heinemann. Die Bürgergesellschaft, die zivile, von der wir zu rot-grünen Zeiten immer wieder hörten, kann kommen.

Die Flagge weht lediglich, man könnte sagen: freier. Wer heute eine sieht, gleich wo, den weht auch Erinnerung an. An den Sommer des Wohlgefühls, an eine Gesellschaft im Aufbruch, an ihre Kraft, die unsere eigene ist.

Und auch wenn die Euphorie wieder abebbt und sich bei nahender Mehrwertsteuererhöhung schon wieder viel besser meckern lässt, bleibt doch die Erinnerung an das Gefühl. Seien wir ehrlich – vor diesem Sommer hätte man die Frage, ob Deutschland wirklich „eins“ wird, verneint. Nicht zu unseren Lebzeiten, hätten wir gesagt. Wir haben einen kleinen Ausblick auf etwas bekommen, das möglich ist. Das ist ein Anfang.

Roman Herzog hat uns in seiner Antrittsrede 1994 gemahnt, ja nicht zu glauben, 40 Jahre getrennt gemachte Erfahrungen hätten nicht auch Unterschiede in den Mentalitäten bewirkt. „Haben wir denn im Ernst annehmen können, wir wären nach 40 Jahren der Trennung, (...) dieselben?“, fragte er. Herzog sprach aber auch davon, dass wir, wenn wir all die Aufgaben meistern wollten, uns „unserer selbst etwas sicherer werden“ müssten. Das hat Schröder uns zu lehren versucht, wenn es auch auf Herzogs Gedanken zurückgeht.

Und so können wir heute und in Zukunft vielleicht gemeinsam auf die Vergangenheit zurückblicken: die Hinrichtung Robert Blums 1848, die Proklamation der Republik 1918, Hitlers Marsch auf die Münchner Feldherrnhalle 1923, die Pogrome gegen die Juden 1938 und die Erklärung des SED-Politbüros, die die Mauer letzten Endes öffnete.

Wieder etwas, das eint. Heute, am 9. November.

Die Autorin ist beim Magazin „Park Avenue“ zuständig für Politik und Essay.

Stephanie Nannen

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