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Politik: „Die Freude kommt viel zu kurz“

Lothar de Maizière und Wolfgang Schäuble über die Wucht der Veränderungen und verpasste Chancen – eine Einheitsbilanz

Herr de Maizière, Herr Schäuble, vor 15 Jahren haben Sie den Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR geschlossen. Wie sieht Ihre Bilanz aus?

de Maizière: Das ist die berühmte Frage zum Füllstand des Wasserglases. Für mich ist es halb voll. Gerade erst war ich in Bitterfeld, der größten Dreckschleuder, die es in der DDR gab. Jetzt machen sie dort aus BraunkohleRestlöchern Badeseen und ein Freizeitzentrum entsteht. Wer diesen Unterschied sieht, kann viel über die letzten 15 Jahre lernen. Natürlich, es gibt auch Hoyerswerda, wo die Arbeitslosigkeit fast dreimal so hoch ist wie im Westen und man einige tausend Einwohner verloren hat. Und ich frage mich schon manchmal, wie die Schere zwischen diesen beiden Orten zu schließen sein soll. Aber am Ende, denke ich, überwiegt doch das Positive.

Viele Ostdeutsche machen aber einen frustrierten Eindruck – nicht nur auf Edmund Stoiber.

de Maizière: Wie kann man nur so über uns reden? Jeder weiß doch, dass die Leute hier viel mehr in Kauf nehmen, um einen Arbeitsplatz zu bekommen, als anderswo. Die Wahrnehmung des Ostens hat etwas Asymmetrisches. Man sieht immer nur das, was nicht funktioniert. Wer erinnert sich denn heute noch daran, dass 16 Millionen Menschen damals von einem Tag auf den anderen fast ihre gesamten Lebenserfahrungen wegwerfen konnten. Wir mussten doch nahezu alles neu lernen, uns anpassen.

Schätzen die Westdeutschen diese Anpassungsleistung der Ostdeutschen zu gering, Herr Schäuble?

Schäuble: Ich glaube sogar, viele Westdeutsche haben diese Leistung überhaupt nicht verstanden. Das ist doch eines unserer Probleme heute. Wir sollten uns im Westen mit der Lagebeschreibung in Ostdeutschland viel mehr zurückhalten und uns vorschnelle Urteile ersparen.

de Maizière: Es gibt kaum etwas Verdrießlicheres, als jahrelang immer wieder die eigene Biografie aus dem Westen erklärt zu bekommen.

Schäuble: Die Westdeutschen müssen sich noch viel mehr mit dem auseinander setzen, was in der früheren DDR war und welche Veränderungen die Menschen durchgemacht haben. Dann erst dürfen wir ihnen erklären, wie die Welt aus unserer Sicht funktioniert und was wir von ihnen erwarten. Denn auch wir im Westen haben so manche Leistung in den letzten 15 Jahren erbracht. Ein einziger Blick in Richtung Osteuropa zeigt, welche immense solidarische Leistung hinter dem Aufbau Ost steht. Auf beiden Seiten sollte viel mehr danach gefragt werden, was die andere Seite getan hat, als ihr Fehler vorzuwerfen.

de Maizière: Ich habe neulich einen Freund in Prag gefragt, warum die Leute dort so viel zufriedener wirken als in Ostdeutschland. Zwei Gründe hat er mir genannt: Erstens vergleichen sich die Ostdeutschen immer mit dem Westen, die Tschechen vergleichen ihre Lage mit früher. Zweitens: Die Ostdeutschen sind geändert worden, die Tschechen haben sich geändert. Es hat eben wenig von Selbstbestimmung, wenn man die Maßstäbe aus dem Westen vorgesetzt bekommt und sich danach auszurichten hat.

Schäuble: Hier muss man allerdings daran erinnern, dass die Ostdeutschen das so gewollt haben.

de Maizière: Ich beklage mich ja gar nicht!

Schäuble: Das ist aber ein ganz zentraler Punkt. Denn ohne den Wunsch der Mehrheit der DDR-Bürger, möglichst rasch so leben zu können, wie sie glaubten, dass die Westdeutschen leben, wäre es nie zur deutschen Einheit gekommen. Und jetzt stellt so mancher fest, dass der Wohlstand des Westens nicht unbedingt glücklicher macht.

Vor allem junge Menschen verlassen den Osten in Scharen. Wo liegen die Perspektiven der Neuen Länder, wenn die Jungen gehen?

de Maizière: Ich sehe die Gegenwart gar nicht so finster. Nehmen Sie die vielen historischen Stadtkerne, die in den letzten Jahren liebevoll saniert wurden. Die Menschen sind sehr stolz auf ihre Heimat. Und ich denke, wenn viele jener 60 Prozent aller Westdeutschen, die noch nie im Osten waren, das sehen könnten, wären wir uns schon ein ganzes Stück näher.

Schöne Fassaden und sauberes Wasser schaffen keine Arbeit.

Schäuble: Aber sie sind Ausdruck einer gesunden Heimat und von Leben. Allein in der Zeit seit der Wende ist die Lebenserwartung der Menschen um rund zehn Jahre gestiegen. Diese dramatische Verbesserung hat etwas zu tun mit den Umweltbedingungen, der Ernährung und der besseren ärztlichen Versorgung.

de Maizière: Das stimmt. Man sollte sich heute viel öfter daran erinnern, dass im Raum Bitterfeld rund 80 Prozent der Kinder schwere Hustenerkrankungen und Asthma hatten. Wenn diese Kinder mit sechs Jahren zur Schule kamen, waren sie in ihrer Entwicklung nicht selten bis zu einem Jahr zurück. Gerade in den Chemieregionen wurden von der Industrie säurehaltige Dämpfe in die Luft gepustet, die zu schweren Erbkrankheiten geführt haben. Das war die Realität, eine furchtbare Realität.

Dennoch haben diese Verbesserungen nicht zu einem neuen Selbstbewusstsein im Osten geführt. Auch das hat der kollektive Aufschrei nach Stoibers Kritik doch gezeigt.

Schäuble: Vielleicht tun wir uns alle zu schwer mit dem Patriotismus. Sonst könnten wir die Wiedervereinigung mehr als Geschenk denn als Last und Zwang zur Veränderung sehen. Die meisten im Westen haben ganz Europa, die halbe Welt gesehen. Welchen unglaublichen landschaftlichen und kulturellen Reichtum wir zu Hause – in Ost und West – haben, wissen viele gar nicht. Auch die Freude, etwa an solchen Jahrestagen wie dem 3. Oktober, kommt mir viel zu kurz. Dabei ist das jedes Jahr wieder ein richtig schönes Fest.

de Maizière: Für viele Menschen im Osten sind die Veränderungen der letzten Jahre wohl größer und schwieriger, als wir uns das vorstellen können. Deshalb ärgern sie sich viel mehr, als es nötig wäre, darüber, wenn etwa aus Bayern so wenig kluge Bemerkungen herüberwehen. Die Wucht der Veränderung hat uns dünnhäutig gemacht. Außerdem haben 40 Jahre sozialistische Bevormundung eben auch sehr viele Mündel hinterlassen. Die Menschen sind durch Kollektiv-Erfahrungen geprägt worden, erwarten Führung und Zuwendung. Werden sie allein gelassen mit ihren Entscheidungen und dann auch noch für ihre Fehler verhöhnt, trifft sie das schwer. Eigene Durchsetzungsstärke ist kein Erfahrungswert aus der DDR. Man könnte für so manches Verhalten der Ostdeutschen sogar in der Biologie eine Parallele finden: Bei schlagartig völliger Veränderung der Lebensverhältnisse beißt die eine Kreatur, eine andere stellt sich tot.

Wenn Stoiber so etwas sagen würde, bräche ein Sturm der Entrüstung los.

de Maizière: Weil es ihm einfach nicht zusteht.

Schäuble: Es ist immer besser, sich selbst zu kritisieren. Schon die Bibel wusste vom Splitter im Auge des anderen und vom Balken im eigenen Auge.

Werden die gegenseitigen Verwundungen erst aufhören, wenn niemand mehr lebt, der sich an die Teilung erinnert?

Schäuble: Nein, es gibt keine verlorene Generation. Aber wir müssen lernen, zu akzeptieren, dass es lange dauert, bis die Folgen einer sehr langen Trennung überwunden sind. Und auch diese Zeit hat ihre Erfolge, ihre Schönheiten. Ich will das keineswegs gleichsetzen, aber es dauerte mindestens eine Generation, bis wir die Folgen der Nazizeit in der Gesellschaft aufgearbeitet hatten. Die Teilung und die DDR dauerten 28 Jahre länger.

de Maizière: Es gab einen Teil der DDR-Bevölkerung, der zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung zehn Jahre zu alt war, um noch einmal durchzustarten, und zehn Jahre zu jung, um in Rente zu gehen. Es ist uns trotz Vorruhestandsregelungen nicht gelungen, diesen Menschen den Übergang zumindest materiell leicht zu machen. Das sind zum großen Teil Menschen, die die DDR sehr aktiv mit aufgebaut haben und jetzt 15 Jahre lang von einer Umschulung zur anderen gehen. Dass sie diese Jahre nicht als Erfolg sehen, kann ich sogar verstehen.

Schäuble: Ich verstehe die weit verbreitete Resignation gerade dieser Menschen nicht. Denn sie könnten ihrer Heimat zum Beispiel in ehrenamtlicher Arbeit sehr viel geben. Ich finde die Weigerung, sich viel stärker an der Gestaltung der Umgebung zu beteiligen, fragwürdig. Es gibt in Ostdeutschland zum Beispiel einen riesigen Bedarf an ehrenamtlicher Jugendarbeit, damit die Jungen nicht den Rattenfängern von Rechts überlassen werden. Aber wo immer ich das im Osten anspreche, werde ich auf den zu geringen Umfang der staatlichen Mittel hingewiesen. Dass es in jeder Stadt Menschen gibt, die sich dieser Aufgabe auch ohne Haushaltstitel widmen könnten, gerät dabei völlig aus dem Blick.

de Maizière: Viele Ostdeutsche sind ehrenamtlich tätig – in der PDS.

Sind daran nicht die westdeutschen Parteien schuld?

Schäuble: Darum geht es mir nicht. Natürlich ist das auch eine Aufgabe von Parteien. Aber es geht um die Grundhaltung. Immer sind andere verantwortlich und an irgendetwas schuld. Welche Rolle wir selbst spielen, fragen wir uns viel zu selten.

Herr de Maizière, Sie haben einmal gesagt, die Union sei mit den alten NSDAP-Mitgliedern gnädiger umgegangen als mit den SED-Mitgliedern. Gilt das heute noch?

de Maizière: Die SED hatte 3,4 Millionen Mitglieder, wovon der größte Teil nicht zu den ultraüberzeugten Kommunisten zählte. Es stimmt, die etablierten Parteien haben sich nach Wende gescheut, diesen Menschen eine politische Heimat zu geben. Dabei war der größte Teil von ihnen gar nicht links, sondern viel wertkonservativer, als man denkt. Wenn man so will, haben wir sie in ihr Ghetto zurückgestoßen und zugelassen, dass sie sich dort in ihrem eigenen Milieu bewegen.

Auch Sie, Herr Schäuble, haben in Ihrer Zeit als Fraktionschef der Union vor einer überscharfen Beurteilung der ehemaligen SED-Mitglieder gewarnt. Hat die Union mit ihrer harten Politik der Abgrenzung die Erfolge der PDS nicht begünstigt?

Schäuble: Ich war immer der Auffassung, dass man den Menschen nach so einer geschichtlichen Periode die Chance geben muss, die Zukunft mitzugestalten. Niemand sollte zu sicher sein in seinem Urteil über andere. Es ist sehr schwer, in einer solchen Situation den Opfern gerecht zu werden und dennoch nicht Menschen zu Unrecht zu Tätern zu machen und sie damit abzustempeln.

de Maizière: Ich schätze mal, es gab 1990 in der DDR drei Prozent Täter und drei Prozent Opfer. Der Rest war Volk, das sich nur sein Leben einrichten wollte, als es zu gewärtigen hatte, dass die Mauer ein Dauerzustand werden würde. Wir hätten mit der Wiedervereinigung das Sortieren der Menschen in Gute und Böse nicht ganz so sehr übertreiben dürfen. Vielleicht stand uns auch unser Protestantismus dabei im Weg. Als ich 1990 als letzter DDR-Regierungschef den spanischen Botschafter gefragt habe, wie sein Land es geschafft hat, so ruhig aus der Franco-Diktatur in die Demokratie hinüberzuwachsen, sagte der mir: Geholfen hat uns dabei der Katholizismus, das Vergeben. Die DDR war protestantisch, ohne Protestanten. Und sie war preußisch, ohne Preußen.

Schäuble: Wenn wir beide zurücksehen, dann waren uns die Probleme schon bewusst. Und wir haben uns natürlich mit der Frage von Schuld und Amnestie auseinander gesetzt. Aber man darf nicht vergessen, dass der gesamte politische Einigungsprozess mitten in der Wahlauseinandersetzung im Westen stattfand. Das hat viele Entscheidungen unmöglich gemacht, die es wert gewesen wären, in Ruhe bedacht und getroffen zu werden. Meine Erfahrung aus dieser Zeit: Ich würde alles wieder so machen, aber nie wieder eine Wiedervereinigung im Wahljahr.

15 Jahre danach regiert in der einst geteilten Hauptstadt Berlin eine rot-rote Koalition. Müssen Sie nicht befürchten, dass dies mittelfristig auch im Bund der Fall sein wird?

Schäuble: Eine solche Befürchtung plagt mich nicht. Es ist so in der Demokratie, dass man für seine politischen Vorstellungen Mehrheiten finden muss. Und ich vertraue darauf, dass es uns auch in Zukunft gelingt, Mehrheiten gegen demagogische Tendenzen zu finden.

Hat das bürgerliche Lager am 18. September nicht die strukturelle Mehrheit an Links verloren?

Schäuble: Das sehe ich nicht so. Die Wahlentscheidungen sind so volatil geworden, dass selbst die Demoskopen damit Probleme haben. Daher glaube ich nicht an strukturelle Mehrheiten. In der Demokratie muss man daran glauben, dass man die Menschen von der Richtigkeit seiner Politik überzeugen kann. Wenn das nicht gelingt, dann soll man nicht die Wähler beschimpfen, sondern darüber nachdenken, was man falsch gemacht hat.

Ist die PDS so antidemokratisch, dass sich alle anderen Parteien im Bundestag gegen Gespräche und Koalitionen mit ihr stellen dürfen?

Schäuble: Man muss schon sehen, dass sich die PDS nicht von jenen Mitgliedern distanziert, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Aber das ist nur die eine Seite. Wer den Menschen hemmungslos das Blaue vom Himmel verspricht, ist ein Demagoge, wenn er gleichzeitig sagt, an der Regierung nicht beteiligt werden zu wollen. Ich kann nicht akzeptieren, wie diese Partei den Leuten etwas verspricht, von dem ihre Parteispitze ganz genau weiß, dass es niemals umsetzbar ist. Mit diesen Leuten kann man nicht über eine Regierungsbeteiligung sprechen.

Wann werden die Menschen in Ostdeutschland von sich sagen können, sie sind in Deutschland angekommen, mental und ökonomisch?

de Maizière: Ach, immer diese Prophezeiungen. Das bringt doch nichts. Moses hat den Menschen gesagt, es dauere 40 Jahre, bis sie im gelobten Land ankommen. Nach 20 Jahren wollte die Hälfte umkehren. Was nützt es uns also, zu wissen, wann die Lebensverhältnisse in Ost und West ähnlich sind? Ich bin zufrieden, wenn überall in Deutschland Professoren ihre Studenten nicht mehr nach Ost und West unterscheiden, sondern nur noch nach schlau oder doof. Und ich treffe schon erstaunlich viele solcher Professoren.

Das Interview führten Stephan Haselberger und Antje Sirleschtov. Das Foto oben machte Mike Wolff.

WESTDEUTSCH

1942 in Freiburg geboren, studiert Wolfgang Schäuble Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, arbeitet in der Steuerverwaltung Baden-Württembergs und erwirbt 1978 die Rechtsanwaltszulassung. 1965 CDU-Eintritt, seit 1972 Bundestagsmandat, 1984 bis 1989 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Kanzleramts.

EINHEITSARCHITEKT

Als Bundesinnenminister führt Schäuble 1990 für die Kohl-Regierung die Verhandlungen über den Einigungsvertrag. Sein DDR-Partner ist neben de Maizière vor allem Staatssekretär Günther Krause.

GESAMTDEUTSCH

1991 bis 2000 ist er Chef der Unionsfraktion des Bundestags und nach der Niederlage Kohls bei der Bundestagswahl 1998 dessen Nachfolger als Parteichef. Im Zuge der Parteispendenaffäre legt er 2000 seine Ämter nieder. Seit Oktober 2002 ist er stellvertretender Fraktionschef.

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