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2012

© picture alliance / dpa

Politik: Die gnädige Weise

Nächste Woche wird sie wieder besungen: die „gnadenbringende“ Weihnachtszeit. Aber was ist die Gnade dem selbstbestimmten Menschen heute? Ein Geschenk? Ein Verwaltungsakt? Ein zündender Funke? Oder eine Zumutung?

Der Mann, aus dessen Feder der allerjauchzendste und allergängigste Weihnachtsliedertext stammt, war einst als bissiger Denker gefürchtet, was seltsam genug ist. Scharf war seine Satire und schneidend seine Worte. Aus Erfahrung, könnte man denken. Denn zu einer Zeit, da man in einen Stand hineingeboren wurde und dort zu bleiben hatte, wollte Johannes Daniel Falk Höheres, er wollte als Arme-Leute-Sohn zum Gymnasiasten werden – und schaffte das auch durch eigene Anstrengung. Doch er zog daraus nur für kurze Zeit die Lehre, dass jeder für sein Glück selbst verantwortlich sei. Vier seiner sieben Kinder starben innerhalb kurzer Zeit an Typhus, und draußen im Land tobte der Krieg gegen Napoleons Truppen. Landauf, landab wurden Kinder zu Waisen und wussten nicht wohin. Überall herrschte Elend. Falk, davon schwer erschüttert, schuf einen Verein gegen die Not und baute den Waisen ein Haus. Für sie dichtete er später auch das Lied, das in den kommenden Tagen wieder im ganzen Land erklingen wird. Mit dem Text wollte er den Kindern Mut machen. Durch das Jesuskind in der Krippe sei Gottes Gnade als Geschenk an alle in die Welt gekommen, egal wie traurig einer ist, wie einsam, wie arm oder reich. Darauf vertraute Johannes Daniel Falk inzwischen auch selbst fest; dass das Leben mehr ist, als der Mensch daraus machen kann. Das Lied ist von 1816, es heißt „O du fröhliche“ und erzählt von der gnadenbringenden Weihnachtszeit.

Was ist von der Gnade fast 200 Jahre später übrig – außer dem Festtagsschlager?

Schon die Philosophen der Aufklärung wollten die Menschen aus der Abhängigkeit von weltlichen und geistlichen Mächten befreien. Von Gnade hielt auch Karl Marx nicht viel. „Ein Mensch, der von der Gnade eines anderen lebt, betrachtet sich als ein abhängiges Wesen“, schrieb er. Mit Freiheit habe das nichts zu tun.

Immer mehr Menschen sahen und sehen das genauso. Sie wollen ihr Glück – ganz wie Falk in jungen Jahren – selbst erarbeiten, statt auf Gnade zu hoffen. Dass ihnen etwas geschenkt würde, einfach so, ist ohnehin suspekt. Vielmehr gibt es in Deutschland heute Rechte, das Recht auf Bildung und das auf ein menschenwürdiges Leben, das kann jeder einfordern. Arme Familien werden vom Staat unterstützt, und wenn etwas schiefläuft greifen Gesetze, da braucht es keine Gnade. Und doch hat sie überlebt.

In Berlin trifft man die Gnade in einem mächtigen, 100 Jahre alten Bürogebäude in der Salzburger Straße 21 in Schöneberg. „Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz“ steht am Eingangsportal. In Referat III C ist das „Gnadenwesen“ untergebracht. Breite Stufen führen in den ersten Stock und in Räume so groß wie Ballsäle. Hier ist das Büro von Alexander Straßmeir. Er ist 49 Jahre alt, CDU-Mitglied und Staatssekretär in der Justizverwaltung. Alle sechs bis sieben Wochen tagt bei ihm der „Gnadenausschuss“, er ist der Vorsitzende. Die fünf Mitglieder des Ausschusses werden von den Parteien im Abgeordnetenhaus berufen und können die Begnadigung eines Straftäters empfehlen.

Früher waren es Kaiser, Könige und Fürsten, die „Gnade vor Recht“ walten ließen, wenn ihnen danach war. Sie rechtfertigten ihre Macht mit „Gottes Gnade“. Sie waren Herren über Leben und Tod, und oft passte die Milde in ihre politische Strategie – gerade erweist sich der russische Präsident als gnädig und öffnet kurz vor Olympiabeginn die Lagertore für viele, vor allem prominente Gefangene.

Allgemein gilt, dass in Demokratien über Recht und Gesetz hinaus auch die Gnade ihren Platz hat. „Es ist in der Gesellschaft immer noch Konsens, dass es Gnade geben soll“, sagt Alexander Straßmeir. Die Verfassungsväter jedenfalls hielten es nicht für notwendig, sie zu begründen. Das Grundgesetz und die Landesverfassungen legen lediglich fest, wer für sie zuständig ist. In Artikel 81 der Berliner Verfassung heißt es: „Das Recht der Begnadigung übt der Senat aus.“ Auch der Bundespräsident kann begnadigen oder dieses Recht auf Bundesbehörden übertragen.

Die Fälle fürs Gnadenreferat in der Justizverwaltung sind klar definiert. Nachdem ein Urteil gesprochen ist, können Umstände auftreten, die es nötig machen, einen Fall neu aufzurollen. Geht das nicht, kommt die Gnade ins Spiel. Wenn ein Häftling sterbenskrank wird oder sehr alt ist. Wenn ein Verurteilter eine Geldstrafe nicht zahlen kann, weil er ein Kind zu versorgen hat. Oder eine Strafe ist zu hoch angesetzt, weil der Täter falsche Angaben über sein Gehalt gemacht und Brutto mit Netto verwechselt hat. Der Gnadenausschuss kann Haftstrafen zur Bewährung aussetzen oder verkürzen, er kann Geldstrafen stunden, reduzieren, in gemeinnützige Arbeit umwandeln oder ganz erlassen.

Die Frage, ob der Tagessatz für eine Geldstrafe 40 oder 20 Euro betragen sollte, scheint zu klein für einen Begriff wie die Gnade mit ihrem weiten, über Jahrtausende gespannten Resonanzraum. Doch hinter der Frage nach der Höhe des Tagessatzes steht eine Einsicht, und die ist groß und der Gnade durchaus würdig: die Einsicht, dass Gesetze und Richtersprüche Menschenwerk sind und deshalb begrenzt. Sie können noch so umsichtig formuliert sein und werden doch nie alle Winkel der menschlichen Existenz ausleuchten.

2012 richteten 1483 verurteilte Straftäter Gnadengesuche an den Berliner Senat. Meistens ging es um Geldstrafen. In 74 Prozent der Fälle wurden sie gemildert. In zwölf Prozent wurden Freiheits- in Bewährungsstrafen umgewandelt. Bei den schwereren Fällen, den „Schicksalssachen“, studiert der Staatssekretär selbst die Akten, holt Gutachten von Betreuern im Gefängnis ein und von der Staatsanwaltschaft. Kürzlich hatte Straßmeir die Akte eines Mannes auf dem Tisch, der Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht hatte. Der Anwalt des Häftlings bat darum, dem alten Mann das Gefängnis zu ersparen. Die Staatsanwaltschaft hatte zugestimmt. Straßmeir dachte an die Opfer. Wer hat ihr Schicksal abgemildert? Ist es nicht ihre einzige Genugtuung, den Täter, auch wenn er noch so alt ist, im Gefängnis zu wissen? Er lehnte die Begnadigung ab.

Oft haben sich Menschen für die Gnade starkgemacht, die selbst schuldig geworden waren oder Dramatisches erlebt hatten. So wie Saulus, der zum Paulus wurde. Als römischer Söldner hatte er Christen verfolgt, dann erschien ihm der tote Jesus und er wurde zum frommen Apostel. So steht es in der Bibel. Diese Kehrtwende war so spektakulär, da konnte nur eine höhere Macht im Spiel sein, dachte Paulus. Er deutete es als Geschenk, als Gnade, die ihm Gott gewährt hatte. Und weil er davon ausging, dass alle Menschen diese Gnade nötig haben, weil alle aus dem Paradies vertriebene Sünder sind, rückte er die Gnade ins Zentrum des christlichen Glaubens.

So wie Jesus geredet und die Menschen geliebt hatte, mit einer Hingabe, die gegen alles verstieß, was gesellschaftlich und religiös angesagt war, war für den biblischen Paulus klar: Hier liebte Gott selbst – und zwar so sehr, dass er den Menschen ihre Schwachheit und Fehler verzieh. In dieser Liebe zeige sich die göttliche Gnade. Wer an diesen Jesus Christus glaubt, davon war der Apostel überzeugt, der hat Anteil an dieser Gnade und dem sind die Sünden vergeben.

Man kann sich die Gnade nicht verdienen und auch nicht einfordern, glaubte Paulus, man kann aber sehr wohl etwas tun, um sie anzulocken. „Das Geschenk der Gnade erfordert eine Praxis“, schrieb er an die Christen in Rom. Man solle sich gegenseitig achten und lieben und Gutes tun, zum Beispiel für die Armen spenden.

Die Päpste des Mittelalters, vor allem Alexander VI. und Leo X., verdienten viel Geld mit der Gnade. Sie schwatzten den Gläubigen Ablassbriefe auf, durch die sie sich von ihren Sünden freikaufen und Gott milde stimmen sollten. Der Augustinermönch Martin Luther verdarb ihnen das Geschäft. Die Frage nach dem gnädigen Gott war für ihn eine große, existenzielle Frage – zu groß, um sie mit ein paar Gulden für ein Ablassbrief zu beantworten. Die Frage trieb ihn um und quälte ihn. Luther studierte die Bibel und die Schriften der Kirchenväter, und irgendwann dämmerte ihm: Die Vergebung der Sünden ist an keine andere Bedingung geknüpft, als dass der Mensch an Gott glaubt. So hatte das doch auch schon Paulus gesehen und Augustinus auch. Weil Gott die Menschen liebt, ist er ihnen gnädig. „Sola gratia“, schrieb Luther, allein durch Gottes Gnade sei der Mensch ins Recht gesetzt. So einfach war das und so radikal. Er fühlte sich befreit und erleichtert.

Martin Luther war ein Mann des Mittelalters. Es fiel ihm leicht, auf einen allmächtigen Gott zu vertrauen. Dass Gott eingriff in die Welt, jetzt und hier, gehörte damals selbstverständlich zum Lebensgefühl. War irgendwo ein größeres Wunder geschehen, bauten die Menschen „Gnadenkapellen“ wie im bayerischen Altötting. Darin hängten sie kleine Tafeln auf und dankten Gott für das genesene Kind, die abgewendete Hungersnot.

Pater Markus Mönch fährt mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock eines roten Backsteinbaus in Prenzlauer Berg. Er gehört zum Orden der Herz-Jesu-Priester und hat hier mit vier Mitbrüdern vor einem guten Jahr ein Kloster gegründet. Die obere Etage macht den Eindruck einer Männer-WG mit Wäscheständern voller Hemden. Dass Pater Mönch ein Ordensmann ist, sieht man seiner Jeans und dem Fleecepullover nicht an.

„Mit der Gnade brauche ich den Menschen nicht zu kommen“, sagt er und gießt sich Espresso ein. „Klingt zu altmodisch und schreckt ab.“ Im Kiez wohnen bärtige Hipster, junge Familien und ein paar Alteingesessene. Vorne raus lärmt die Greifswalder Straße, hinten grenzt der Volkspark Friedrichshain an und das schicke Bötzowviertel. Wer mag, kann im Kloster bei den Mönchen Gemeinschaft finden, Rituale und so etwas wie Heimat.

Um zu erklären, was er unter Gnade versteht, erzählt Pater Mönch von einem Bild, das er vor ein paar Jahren gesehen hat: Ein Mann steht am Horizont und greift mit den Armen über den Horizont hinaus. Anders als die Tiere sei der Mensch mehr als seine Triebe. Mehr auch als sein Intellekt. Da sei noch etwas anderes, eine „Kraft“, eine „Sehnsucht nach mehr“. Als er die zum ersten Mal spürte, war er Mitte 20. Er hat in sich hineingehorcht, Menschen getroffen, denen es ähnlich ging, Theologie studiert. Sie ist geblieben, diese Kraft, und trägt ihn seitdem durch Zweifel und Niederlagen und auch wenn er glücklich ist, spürt er sie. „Das ist für mich Gnade“, sagt er.

Er spricht nicht von Schuld und Sünde. Sondern von „Funken“, die überspringen können von Mensch zu Mensch. Von Freundschaft, von Liebe. Und dass in solchen Beziehungen diese Macht von außen aufblitzen kann. Wenn Eltern zu ihm kommen, erklärt er ihnen, dass es bei der Taufe um mehr geht als um Tradition und Rituale. Dass das Kind nicht nur mit Wasser beträufelt wird, sondern auch gesalbt, um etwas Besonderes aus ihm zu machen, so wie früher Könige gesalbt wurden. Auch in diesem Besonderen wohnt die Gnade. Sie ist für ihn so eine Art Sahnehäubchen auf der menschlichen Existenz, das jeder gebrauchen kann, auch wenn er meint, er habe schon alles. Der Spielraum fürs Glück. „Diese Erfahrung biete ich an wie einen Schokoladenkeks zum Espresso“, sagt Pater Mönch.

Die Gnade kommt im 21. Jahrhundert auf leisen Sohlen daher, sie braucht keine Pauken und Trompeten mehr, keine Dramen, keine spektakulären Lebenswenden, es muss nicht um Leben und Tod gehen wie bei Paulus, Martin Luther und Johannes Daniel Falk.

Und doch ist es so schwer, sie anzunehmen. Für manchen ist der Gedanke zwar entlastend, nicht alles selbst regeln zu müssen und dass da noch eine andere Macht ist, die trägt jenseits von Wettbewerb, Leistung, Kompetenz. Doch wenn sie dann ins Leben einbricht, ist es unheimlich.

Carsten Voss denkt bei Gnade an Gnadenhof, Gnadenbrot, an etwas, das gewährt wird und zwar willkürlich. Das ist ihm suspekt und regelrecht unangenehm wie das Wort selbst. Dieses Hehre, Altertümliche. Nein, Gnade sei es nicht, was er mit seinem Leben assoziiere. Aber könnte es nicht genau das gewesen sein?

Voss, ehemals Manager der Berliner Modemesse Bread & Butter, hat sich jahrelang schwer überarbeitet, bis der völlige Zusammenbruch kam, physisch und psychisch, so dass aus dem herumjettenden Großverdiener ein herumirrender Obdachloser wurde. Aber Voss kam wieder auf die Beine. Seit dem Sommer führt er ehrenamtlich Berliner und Besucher auf sogenannten Obdachlosen-Touren durch Schöneberg und Charlottenburg, zeigt die Plätze der Heimatlosen und erklärt deren Leben. Voss selbst hat wieder eine Wohnung, bezieht Hartz IV, hat ein Onlinestudium begonnen, Fundraising für soziale Projekte – und findet, er sei heute zufriedener als damals: „Mein Leben fühlt sich heute ausgefüllter an.“ Am Ende des Absturzes wartete also ein Licht. Ja. Eine besondere Fügung. Aber Gnade? Voss denkt lange nach. Erinnert sich an Helmut Kohl und dessen „Gnade der späten Geburt“. Von Anfang an habe er sich über den Satz geärgert.

Gnade werde nur besonderen Menschen zuteil, sagt Voss, so sieht er sich und sein Leben nicht. Aber eins ist ihm klar: „Das ist nichts, was ich allein geschafft habe.“ Das sei ihm passiert. Vielleicht aus Gründen. Aber welchen?

Mitarbeit Ariane Bemmer

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