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Politik: Die große Stunde der Taktiker (Leitartikel)

In der Parteispendenaffäre kann die Union die weitere Entwicklung nicht mehr kontrollieren. Mit Walther Leisler Kiep, Heiner Geissler, Helmut Kohl selbst und Angela Merkel hatten in den vergangenen Wochen vier führende CDU-Mitglieder entweder durch Angaben zur Sache oder durch öffentliche Aufforderung, für mehr Klarheit zu sorgen, zunächst, zum Teil völlig unfreiwillig, das Tempo bestimmt.

In der Parteispendenaffäre kann die Union die weitere Entwicklung nicht mehr kontrollieren. Mit Walther Leisler Kiep, Heiner Geissler, Helmut Kohl selbst und Angela Merkel hatten in den vergangenen Wochen vier führende CDU-Mitglieder entweder durch Angaben zur Sache oder durch öffentliche Aufforderung, für mehr Klarheit zu sorgen, zunächst, zum Teil völlig unfreiwillig, das Tempo bestimmt. Vielleicht schon heute wird die Bonner Staatsanwaltschaft den Bundestagspräsidenten informieren, dass sie gegen Helmut Kohl ein Ermittlungsverfahren wegen Untreue einleiten will. Diese Absicht können die Ermittlungsbehörden nach geltender Rechtslage zwei Tage später, also frühestens am Donnerstag, in die Tat umsetzen, wenn der Parlamentspräsident dem nicht widerspricht. Mit einem solchen Einspruch Wolfgang Thierses ist nicht zu rechnen. Ob das Ermittlungsverfahren zu einer Anklage führt, steht dahin. Die CDU jedenfalls hat auf den Fortgang der Dinge dann keinen Einfluss mehr.

Zusätzlichen Antrieb für das Ermittlungsverfahren hat Angela Merkel gegeben, als sie Kohl vorwarf, durch sein Verhalten seien der CDU einerseits staatliche Zuschüsse entgangen, andererseits drohte ihr sogar die Rückzahlung von Fördermitteln in Millionenhöhe. Dies erfüllt den juristischen Tatbestand der Untreue, bei dem es völlig unerheblich ist, ob sich der Beschuldigte selbst bereicherte. Wenn das Handeln des Parteivorsitzenden dazu geführt hat, dass der CDU ein Vermögensschaden entsteht, ist das Untreue. Und dieser Schaden ist jetzt schon erkennbar, freilich noch nicht in seinem ganzen Umfang abzusehen.

Mit der Beurteilung der neuen Situation tut sich die Unionsspitze schwer. Gegen Angela Merkel, die in einem offenen Brief in der "FAZ" ihre Partei zur Emanzipation, zur Loslösung von Helmut Kohl aufgefordert hatte, erhebt ich Widerspruch. Die Ministerpräsidenten Bernhard Vogel und Roland Koch gehören zu ihren Kritikern. Interessanterweise nahmen aber beide und auch andere alte Anhänger Kohls wie Norbert Blüm und Erwin Teufel nicht an der Präsidiumssitzung vom 22. Dezember teil. Daraus wiederum kann man schließen, dass Wolfgang Schäuble und Angela Merkel mit ihrem Kurs der zunehmenden Distanzierung vom Alt-Bundeskanzler auf die mehrheitliche Unterstützung jener jüngeren Präsidiumsmitglieder bauen können, die ihre politische Zukunft noch vor sich haben. Frau Merkel forciert dabei das Tempo der Abnabelung deutlich, während Schäuble eher das retardierende Element verkörpert. Das mag damit zusammenhängen, dass der langjährige Fraktionsvorsitzende der erfahrenere Taktiker ist. Schäuble weiß aus den Landesverbänden, dass Helmut Kohl in der Öffentlichkeit weiter grosse Sympathie genießt. Die Leserbriefe in der "Bild"-Zeitung, ein sicherer Stimmungsindikator, bestärken Kohl mehrheitlich darin, sein "Ehrenwort" nicht zu brechen und die Namen der Spender nicht zu nennen. Wer öffentlich in den Verdacht gerät, das Denkmal Kohl umstürzen zu wollen, läuft Gefahr, von dessen Trümmern erschlagen zu werden.

Dieses Schicksal kann Angela Merkel so schnell nicht treffen. Die nächsten Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern, bei denen sie CDU-Spitzenkandidatin werden könnte, finden erst im Herbst 2002 statt. Volker Rühe hingegen, der zumindest öffentlich noch zögerlich zwischen Nähe und Distanz zu Kohl schwankt, könnte das Verdikt der schleswig-holsteinischen Wähler schon am 27. Februar treffen. Freilich: Was die Staatsanwälte ermitteln, wenn sie denn ermitteln, könnte alle taktischen Berechnungen über den Haufen werfen.

Gerd Appenzeller

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