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Politik: Die Grünen: Der kurze Sommer der Harmonie

Der Karton, der früher einmal weiß war, ist vergilbt. Doch die schwarzen Linien darauf lassen klar einen Grundriss erkennen.

Der Karton, der früher einmal weiß war, ist vergilbt. Doch die schwarzen Linien darauf lassen klar einen Grundriss erkennen. Darüber der Schriftzug: "Haus Wittgenstein". Es ist ein historisches Dokument - jedenfalls eines grüner Parteigeschichte. Hochkant an ein Regal gelehnt, wartet es auf seine Entsorgung. "Mir hat der Rahmen so gefallen", sagt Renate Künast. Sie meint das braun glänzende Leistengeviert, nicht die schöne Villa mit dem philosophischen Namen. Nachdem sie bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 aus dem Parlament geflogen waren, hatten die Grünen dort ihr Hauptquartier bezogen, auf dem Lande, etliche Straßenbahnstationen entfernt vom damaligen Regierungssitz Bonn. Die räumliche Distanz verstärkte die inhaltliche zur etablierten Politik; reumütig bezog die Partei nach der Rückkehr ins Parlament 1995 einen hässlichen Betonbau in einem Hinterhof nahe der SPD-Zentrale.

Heute residieren die Grünen wieder in einem Schmuckstück, diesmal mitten im Leben des neuen Berlin, nicht weit vom Reichstag. Die CDU hat im Tiergarten, die SPD in Kreuzberg Quartier bezogen; nur die FDP, linksrum in der Reinhardtstraße, lauert fast so nahe am Zentrum wie die Grünen. Aus dem Fenster schaut Künast auf einen metropolentypischen Kran. Fritz Kuhn, der aus Stuttgart an die Spree gewechselt ist, blickt lieber auf einen grünen Hinterhof. Er braucht Ruhe zum Denken.

Eine Baustelle, auf der nachgedacht wird - so präsentiert sich die Parteizentrale auch politisch, seit vor noch nicht 100 Tagen jenes Duo hier eingezogen ist, das Joschka Fischer, der "heimliche Parteivorsitzende", installiert haben wollte. Mancher wähnte die beiden - gemäßigt links die eine, "hardcore" Realo der andere - schon demontiert, weil der grüne Superstar sein Traumpaar zu früh bekannt gemacht hatte; aber auf dem Parteitag ist es dann doch gut gegangen.

Die beiden haben zudem aus der Not eine Tugend gemacht und mit dem Kennenlernen schon begonnen, bevor sie ihre Büros bezogen hatten. Seitdem fällt auf, dass sie in Sitzungen wenig miteinander reden, "reden müssen", wie Künast ergänzt, weil sie sich schon vorher miteinander abgesprochen haben. Ein deutlicher Kontrast zur vorhergehenden Doppelspitze Antje Radcke und Gunda Röstel, deren Kooperation bestenfalls als antagonistisch zu bezeichnen war.

Ein Kontrast auch zu jenem Duo, das die Bundestagsfraktion führen soll: Kuhns schwäbischer Landsmann und Freund Rezzo Schlauch und die Kölnerin Kerstin Müller, die schon in Oppositionszeiten an der Seite Fischers den linken Flügel repräsentierte. Auf dem Parteitag, der Kuhn und Künast wählte, bekamen sie bei der Kür zum neuen "Parteirat" nicht eben glänzende Ergebnisse.

Nie würde einer der beiden es öffentlich zugeben, aber wer sich in der Fraktion umhört, findet keine einzige Stimme, die behauptet, das Duo komme miteinander aus. Im Gegenteil, von Reibungsverlusten ist die Rede, die aus Rivalität entstehe. Schlauch traue Müller wenig zu, Müller fühle sich (siehe oben) ausgegrenzt. Gemäß der alten Weisheit, dass nicht jeder Paranoiker nicht verfolgt wird, ist an dieser Wahrnehmung durchaus etwas dran.

Macht kommt auch im rot-grünen Regierungsgewand ziemlich männlich daher. Die starken Jungen von der SPD kungeln am liebsten mit ihren Geschlechtsgenossen vom kleineren Partner - selbst dann, wenn der Kontakt zu dem "Mädel" sachlich angebracht wäre. Dennoch gibt es auf der Klausurtagung zur Hälfte der Wahlperiode, die heute und morgen in Erich Honeckers einstiger Jagdresidenz Schloss Hubertusstock stattfindet, keine Alternative zu dem Fraktions-Duo. Zwar ist Schlauch auch unter Realpolitikern keineswegs unumstritten. Mangel an intellektuellem Format ebenso wie an politischer Führungsstärke wird ihm vorgeworfen, aber da wäre auf weiter Flur niemand, der es besser könnte - nicht nur wegen des guten Drahtes zum Kanzler.

In Kreisen der linken Fraktionsminderheit gäbe es schon eine Kandidatin: Claudia Roth heißt sie, verfügt über ein ausgeprägtes Temperament. Die Grünen Urthemen Menschenrechte und Rüstungsexport sind ihr Ding - aber antreten wird auch sie nicht; ganz abgesehen davon dass sie jede Ambition bestreitet. Das Gerücht gab es dennoch, aber sie hätte keine Chance, von den "Realos" gewählt zu werden, denen im Zweifel eine als schwach wahrgenommene Linke an Schlauchs Seite lieber ist als eine starke. Dass in anderer Konstruktion auch ihr Mann womöglich stärker sein könnte - auf dieses Kalkül mögen sie sich nicht einlassen.

Dies wiederum könnte die Chance der zweiten, zuvor ziemlich ohnmächtigen grünen Doppelspitze sein. Kuhn und Künast könnten nicht nur jenes Vakuum füllen, das der "heimliche" Vorsitzende hinterließ, sondern auch das politische Kraftzentrum neben den Regierungsmitgliedern von der Fraktion stärker auf die Partei verlagern. Die Kabinettsmitglieder jedenfalls kommunizieren mit dem neuen Vorstand weit intensiver als mit dem vorigen.

Mögen Schlauch und Müller nicht um ihre Posten bangen müssen, mit nicht nur freundlichen Debatten haben sie und der trotz allem immer noch informelle Obergrüne Joschka im abgeschirmter Schlossatmosphäre dennoch zu rechnen. Dass es zum gemächlichen Tempo des Atomausstiegs keine Alternative gibt, ist der grünen Basis fast so klar wie der Fraktion. Aber auch durchaus realistisch gesinnte Bundestagsabgeordnete haben Probleme, wenn eine rot-grüne Bundesregierung eine Fabrik für Gewehrmunition an die Türkei liefern lässt, wo deren Produkte gegen Kurden eingesetzt werden können. Sie müssen auch ziemlich fest die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu werden, wenn eine deutsche Plutoniumanlage nach Russland exportiert wird.

Konkrete Folgen dürften solche Debatten aber kaum zeitigen. Kontinuität hat Fischer als Parole ausgegeben. Schon um die SPD nicht aufzubringen. Denn nicht weniger misstrauisch als Müller auf Schlauch, schaut der schwächere Koalitionspartner auf den stärkeren. Zwar hat Peter Struck, der SPD-Fraktionschef, gerade die Spruchweisheit rezitiert: "Never change a winning team." Aber so ganz trauen die Grünen dem Frieden nicht.

Die Grünen sind auch deshalb so besorgt, weil ihr Fast-Nachbar in der Reinhardtstraße ihnen langsam gefährlich wird. Erst beim Staatsbürgerschaftsrecht, dann im Streit um die Steuerreform hat die FDP sich als "Stimme der Vernunft" und als Schmied des nötigen Kompromisses betätigt. Wenn es demnächst bei der "Homo-Ehe", den eingetragenen Lebenspartnerschaften, wieder um die Mehrheitsfindung im Bundesrat geht, darf die kleine Regierungspartei sich nicht abermals von der kleinen Opposititionspartei die Butter vom Brot nehmen lassen - meint jedenfalls Renate Künast. Ihr Verein muss bei seinem Projekt die Kompromisslinie bestimmen, nicht der politische Gegner.

Der wird noch gefährlich genug bei den anstehenden Landtagswahlen im Frühjahr in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. So wie es jetzt aussieht, haben die Grünen alle Chancen, dort das Rennen um die dritte Kraft zu verlieren. Die Wahlkampfvorbereitung steht ganz oben auf der Prioritätenliste der neuen Parteispitze. Nächste Woche wird sie dem Parteirat ihre Schwerpunkte für den Rest der Legislaturperiode vorstellen. Nicht ohne Stolz verweist die Berlinerin darauf, dass sie als Erste den Kampf gegen den Rechtsextremismus, gleich nach ihrer Wahl, ganz nach oben auf die Skala gesetzt habe - so wie es dann durch den politischen Sommer ging. Dennoch hat der Eindruck sich nicht durchgesetzt, die Grünen hätten die Debatte bestimmt. Renate Künast weiß noch nicht, was in den schönen alten Rahmen mit dem alten Grundriss kommen soll. Und wie es weitergeht mit der Partei insgesamt - da kann, aller kecken Entschlossenheit zum Trotz auch die Berlinerin einen Rest von Ratlosigkeit nicht verbergen.

Thomas Kröter

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