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Die Grünen: Flügelkämpfe unerwünscht

Bei der Wahl von Roth und Özdemir zeigen die Grünen, dass sie im Wahljahr Geschlossenheit wollen.

Von Hans Monath

Auch für Cem Özdemir gilt bei den Grünen die Regel, dass sich jeder Bewerber um das Amt des Bundesvorsitzenden vor der Abstimmung fünf Fragen stellen muss, die zuvor ausgelost worden sind. Gerade hat der 42-jährige Deutschtürke auf dem Parteitag in Erfurt seine Bewerbungsrede abgeschlossen, und der Tagungspräsident mahnt den Bewerber, den Fragen genau zuzuhören. Özdemir droht nun in einem Pulk von Kameraleuten und Journalisten verlorenzugehen. Auf zwei Fragen reagieren die rund 800 Delegierten des Treffens besonders heftig. „Was können wir vom Wahlkampf von Barack Obama lernen“, heißt die eine, die andere lautet: „Cem, es heißt, du bist mediengeil, was sagst Du dazu?“

Das fröhliche Lachen des Saales signalisiert schnell, dass Cem Özdemir der Vorwurf der Medienorientierung an diesem Tag nicht wirklich zu schaffen machen wird. Manche Gegner hatten moniert, der Europaabgeordnete und frühere Bundestags-Innenpolitiker sitze lieber in Fernsehstudios als Akten zu studieren.In der Ausschreibung des Vorsitzendenamtes sei nirgendwo zu lesen gewesen, dass man die Medien meiden solle, meint der Sohn türkischer Eltern trocken. Was schließlich das Vorbild Obamas betrifft: „Mut, Chancen und dass man versucht, alle mitzunehmen, das ist meine Lehre aus dem Wahlkampf in den USA.“

In diesem Moment spürt der Nachfolger von Reinhard Bütikofer als Vertreter der Realpolitiker in der Doppelspitze der Ökopartei wohl schon, dass er kein viel schlechteres Ergebnis erhalten wird als zuvor seine Ko-Vorsitzende. Die langjährige Grünen-Chefin Claudia Roth brennt in ihrer Bewerbungsrede ein Feuerwerk negativer und positiver Reizbegriffe aus dem politischen Kosmos der Ökopartei ab und erntet dafür Jubel. Der Auftritt der Parteilinken spricht die Seele der Partei an. Auf „maximale Distanz“, so wirft sie Angela Merkel vor, gehe die CDU-Chefin mit ihrer Politik gegenüber den Grünen. Gleichzeitig nimmt Roth für sich in Anspruch, die Grünen wieder eng mit den Vertretern der sozialen Bewegungen wie den Anti-Akw-Aktivsten und den Globalisierungskritikern von Attac zusammengeführt zu haben – gegen viele Warnungen. 82,7 Prozent der Delegierten geben Roth dafür ihre Stimme – das sind rund 16 Punkte mehr als vor zwei Jahren.

Keine leichte Ausgangslage für Özdemir. Doch er versucht gar nicht, Roth auf ihrem Feld Konkurrenz zu machen. Er plädiert für breite gesellschaftliche Bündnisse auch mit dem Handwerk und mahnt, über den innerparteilichen Auseinandersetzungen den Kampf gegen den politischen Gegner nicht zu vernachlässigen. Als er Union, FDP und Linkspartei auch mit polemischen Vorwürfen hart angeht, jubelt auch ihm die Halle zu. Die 79,2 Prozent für den „anatolischen Schwaben“ (Özdemir über Özdemir), mit denen er nur wenig hinter Roth zurückbleibt, dürften den Willen der Grünen dokumentieren, sich im Wahljahr nicht durch den Streit der Parteiflügel zu schwächen.

Der Wille zur Geschlossenheit kommt einem der wichtigsten Realpolitiker der Partei freilich an diesem Abend nicht zugute: Trotz einer kämpferischen Rede, in der er sich als Garant eines Konzepts für mehr Arbeitsplätze, soziale Gerechtigkeit und Ökologie empfiehlt, scheitert Fraktionschef Fritz Kuhn bei der Wahl zum Parteirat. Das 17-köpfige Beratungsgremium soll die verschiedenen politische Ebenen der Partei zusammenbinden. Die Parteilinke nahm Kuhn unter anderem übel, dass er dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr zugestimmt hatte. Delegierte seines eigenen Lagers rückten von dem Baden-Württemberger ab, weil der angeblich vor wenigen Wochen Özdemir im Stich gelassen hatte. Damals wurde Özdemir von seinem eigenen Landesverband gedemütigt, der ihm einen aussichtsreichen Listenplatz und damit den Einzug in den Bundestag im kommenden Jahr verwehrte.

Neu in den Parteirat gewählt wurden neben der Hamburger Senatorin Anja Hajduk der zum linken Parteiflügel zählende Nachwuchspolitiker Arvid Bell aus Nordrhein-Westfalen, der Finanzexperte Gerhard Schick aus Baden-Württemberg sowie der Berliner Fraktionschef Volker Ratzmann. Dieser hatte ursprünglich gegen Özdemir als Parteichef kandidieren wollen. Er zog seine Kandidatur aber zurück, um die politische Laufbahn seiner schwangeren Lebensgefährtin nicht zu gefährden. In seiner Rede in Erfurt forderte Ratzmann mehr Einsatz von Vätern bei der Kinderbetreuung.

Vor der Wahl der Parteichefs hatten die Grünen ein „sozial-ökologisches Investitionsprogramm“ beschlossen. Danach sollen 12 bis 15 Milliarden Euro unter anderem in den Ausbau der Kraft-Wärme- Kopplung, der Stromnetze und der Schienenwege im öffentlichen Nahverkehr fließen. Mehr als zwölf Milliarden Euro sollen für Ganztagsplätze in Kindertagesstätten, Ganztagsschulen und zusätzliche Studienplätze aufgebracht werden. Außerdem plädieren die Grünen für eine Anhebung der Hartz IV-Regelsätze auf 420 Euro und des Regelsatzes für Kinder und Jugendliche auf 300 bis 350 Euro. Zudem votierten die Grünen für eine Teilverstaatlichung von in Not geratenen Banken sowie für strengere Regeln zur Kontrolle der Finanzmärkte. Steueroasen will die Partei austrocknen.

Aktuelles Interview mit Özdemir: www.tagesspiegel.de

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