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Lahme und Kranke hat Jesus der Bibel zufolge häufig geheilt.

© akg/North Wind Picture Archives

Die Heiligsprechung von Johannes Paul II.: Gibt es Wunder?

Auf „medizinisch unerklärliche“ Weise soll Johannes Paul II. zwei Frauen geheilt haben. Nach seinem Tod. Dafür wird er nun heiliggesprochen. Kann es das überhaupt geben? Ein Pro&Contra.

Die Stadt Rom rüstet sich für den größten Menschenandrang ihrer Geschichte. Allein aus Polen sollen sich Millionen Pilger aufgemacht haben, um am kommenden Sonntag der Heiligsprechung „ihres“ Papstes, Karol Wojtyla alias Johannes Paul II., beizuwohnen. Auch der zweite, der da – auf Katholisch ausgedrückt – „zur Ehre der Altäre erhoben“ wird, zieht Massen an: Johannes XXIII., der „Gute Papst“, im Amt von 1958 bis 1963. Schon bei den Bestattungsfeiern für Johannes Paul II. im April 2005 waren auf dem Petersplatz die Sprechchöre „Santo subito!“ („Sprecht ihn sofort heilig!“) zu hören. Bei Johannes XXIII., Angelo Roncalli, war es ähnlich: Als er mitten im Zweiten Vatikanischen Konzil starb, also während der von ihm einberufenen Welt-Bischofsversammlung zur großen Kirchenerneuerung, standen die Bischöfe selber kurz davor, ihn auf der Stelle für heilig zu erklären.

So schnell wie nie

Der historische Geschwindigkeitsrekord blieb Johannes Paul II. vorbehalten: Sein Nachfolger Benedikt XVI. wartete nicht die vorgeschriebenen fünf Jahre, bis die Begeisterung abgeklungen war; er leitete sofort die erste Phase der „Kanonisierung“, die Seligsprechung, ein. Papst Franziskus wiederum holte dann Johannes XXIII. als Zweiten auf die Überholspur: Normalerweise werden als Beweis dafür, dass auch der Himmel die von der irdischen Kirche ausgewählten Personen für perfekt gottgefällig betrachtet, zwei Wunder benötigt. Johannes Paul II. hatte nach seinem Tod in der Tat zwei Frauen „auf medizinisch unerklärliche Weise geheilt“, wie der Vatikan befand; Johannes XXIII nur eine, also eine zu wenig.

Kein zweites Wunder

Dann machte Franziskus in einer – wie viele sagen – kirchenpolitisch-programmatischen Weise von seinen Vorrechten Gebrauch: Die Heiligkeit des in weiten Teilen des Kirchenvolkes sehr beliebten und verehrten „Guten Papstes“, erklärte er im September 2013, sei zur Genüge und zweifelsfrei bekannt, da brauche man nicht auf ein zweites Wunder zu warten. War nicht die historische Kirchenreform durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–65), dieses Hinausgehen aus den eigenen, engen Mauern in die weite Welt, ein Wunder – ganz nach dem Sinn von Franziskus selbst?

81 Päpste sind heilig - von 265 Amtsinhabern

Mit den beiden Neuen werden von den etwa 265 legitimen Päpsten der Kirchengeschichte 81 für heilig erklärt sein, dazu einer, der offiziell als Gegenpapst galt. In der Warteschleife stehen als „selig“ neun weitere Kirchenoberhäupter. Bissig merkte der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf unlängst an, ihn mache die aktuelle Inflation von Papst-Heiligsprechungen skeptisch: „Heute wird praktisch jedem zweiten Papst diese Ehre zuteil. Nähme man ernst, dass das Zweite Vatikanische Konzil die Kirche als wanderndes Gottesvolk verstanden hat, dann müsste man auch jeden zweiten katholischen Arbeiter heiligsprechen.“

Die Tagesspiegel-Autorinnen Claudia Keller und Adelheid Müller-Lissner haben sich Gedanken über Wunder gemacht. Lesen Sie auf den nächsten Seiten ein "Pro und Contra":

Pro: Eine Welt ohne Wunder wäre nicht lebenswert

Sie stehen auf, als wäre nichts gewesen: Lazarus, der schon vier Tage im Grab gelegen hat; der Junge Nain, dessen Leiche die Mutter gerade zum Grab trägt. Oder das Mädchen Jairus, um deren Totenbett sich bereits die Klageweiber versammelt hatten. Jesus geht zu den Toten, ruft sie, fasst sie an, und schon sind sie wieder lebendig. In der Bibel geschehen Wunder am laufenden Meter. Jesus werden rund 30 solcher „Zeichen“ und „Krafttaten“ zugerechnet. Bis heute muss in der katholischen Kirche für eine ordentliche Seligsprechung ein Wunder her. Für eine Heiligsprechung braucht es ein weiteres Wunder. Papst Franziskus verzichtet für die Heiligsprechung von Johannes XXIII. in einer Woche auf das bislang ausgebliebene zweite Wunder. Die Traditionalisten schäumen. Wunder sollen nach ihrem Verständnis Gottes Macht beweisen und die Wahrheit der kirchlichen Lehre garantieren. Wie kann man da einfach eins weglassen?

Claudia Keller.
Claudia Keller.

© Kai-Uwe Heinrich

Beten soll helfen

Handfeste Wunder gehören auch in vielen evangelikalen und charismatischen Gemeinden zum Fundament des Glaubens. Bänderrisse, Hirntumore, Unfruchtbarkeit – der Pastor und die Freunde beten, und schon sind die Kranken gesund und die Unfruchtbaren schwanger. Wenn das nicht passiert, haben ihre Fürsprecher halt nicht intensiv genug gebetet. Meistens sucht sich die katholische Kirche ihre Wunder heute im medizinischen Bereich. Das mag daran liegen, dass inzwischen die Naturwissenschaftler definieren, was allgemein als vernünftig und glaubwürdig gilt. Wenn man Vorkommnisse findet, die selbst Mediziner vor Rätsel stellen, müsste das doch auch den letzten säkularen Zweifler von Gottes Größe überzeugen. Das ist die Hoffnung dahinter.

Das geteilte Meer - ein Tsunami?

Doch es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Wunder naturwissenschaftliche Kausalitäten durchbrechen. Und wenn Wissenschaftler Erklärungen für Wunder finden, fällt das Außergewöhnliche oft in sich zusammen. Die Bibel erzählt, wie Mose das Meer teilt, damit die Israeliten aus Ägypten fliehen können. Naturwissenschaftler deuten das als Hinweis auf einen Tsunami. Der Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing vermutete schon im 18. Jahrhundert: Als Jesus den Sturm auf dem Meer bändigte, sei das Boot wohl gerade um eine Landzunge herum gefahren und in eine windstille Bucht gelangt. Womöglich lag Lazarus nur im Wachkoma.

Und doch gibt es Wunder, bis heute. Doch mit naturwissenschaftlicher Empirie kommt man ihnen nicht auf die Spur. Die Wunder der Bibel sind nicht so sehr Beweise für etwas, das schon da ist, sondern deuten auf etwas Zukünftiges hin. Sie kündigen das Reich Gottes an. Sie sind Vorboten einer Utopie, einer paradiesischen Zeit, in der Friede die Gewalt besiegt und Not und Elend ein Ende haben. Dann wird Gerechtigkeit herrschen und „Gott wird abwischen alle Tränen“, wie es in der Bibel heißt. Jesu Zeitgenossen und auch noch die Autoren der Evangelien waren überzeugt, dass diese Zeit bald anbrechen wird. So fiel es ihnen leicht, überall Zeichen dafür zu sehen.

Die Utopie bleibt

Heute wissen wir, dass sich das mit dem Reich Gottes hinzieht. Doch die Utopie, von denen die Wunder sprechen, ist geblieben. Die Hoffnung, dass sich die Welt verändern lässt, treibt auch heute viele Menschen zu außergewöhnlichen Taten an. Ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben ist so groß, dass sie sich nicht abfinden mit Hass und Gewalt. Sie lassen sich nicht entmutigen, auch wenn sie enttäuscht wurden und die Situation rational gesehen aussichtslos ist. Die Bürgerrechtler in der DDR oder die birmanische Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi haben gezeigt, welche Kraft der Glaube an die Veränderbarkeit der Welt erzeugen kann.

Und plötzlich, wenn niemand damit rechnet, geschieht das Unerklärliche: Völker und Menschen versöhnen sich über alle Gräben des Hasses hinweg. Menschen verlieben sich ineinander – gegen alle Absicht und Vernunft. Erdbebenopfer werden gerettet, obwohl keiner mehr damit rechnet. Und immer mal wieder werden Kranke gesund und kein Arzt weiß warum.

Wunder machen demütig

Daneben gibt es die kleinen Wunder, wenn Menschen Erfahrungen machen, die alles auf den Kopf stellen, was sie bisher kannten. Solche Erfahrungen können dem Leben eine völlig neue Richtung geben – auch wenn das wissenschaftlich betrachtet nicht aus dem Rahmen fällt. Manchmal wird es Menschen sogar ein wenig mulmig, wenn eintritt, was sie für unmöglich gehalten hatten. „Furcht ergriff sie alle“, schreibt der Evangelist Lukas am Ende der Geschichte von dem Jüngling Nain, den Jesus vom Tod auferweckt hat. Wunder machen demütig.

Eine Welt ohne Wunder und ohne den Glauben an Wunder wäre nicht lebenswert. Es wäre sterbenslangweilig, wenn Menschen alles erklären, voraussehen und kontrollieren könnten. Es wäre auch unmenschlich. Denn Menschen unterscheiden sich gerade dadurch von anderen Lebewesen, dass sie über sich hinausdenken können und immer wieder ihre eigenen Grenzen überwinden möchten. Wunder entsprechen diesem Grundbedürfnis, dass es in der Welt nicht immer so zugehen sollte, wie es die Gesetze der Natur vorschreiben. Erst die Sehnsucht nach dem Unvorstellbaren weckt die Vorstellungskraft, beflügelt die Fantasie und ermöglicht Kreativität. Ohne diese Sehnsucht gäbe es keinen Fortschritt. Gesellschaft, Kultur und Politik würden erstarren. Menschen in ausweglosen Situationen tröstet die Hoffnung auf ein Wunder. Auch deshalb brauchen Menschen Wunder.

Verdächtig und naiv?

Doch Wunder haben es heute in den westlichen Gesellschaften schwer, weil sie sich dem bestimmenden, rationalen Diskurs entziehen. Wer an Wunder glaubt, macht sich verdächtig, gilt als naiv oder übergeschnappt. Wunder fügen sich nicht dem herrschenden Leistungsgedanken, sie sind auch alles andere als transparent. Sie lassen sich nicht erzwingen, auch nicht durch noch so eifriges Beten. Sie sind kein Fortschrittsprojekt und keine Maßnahme zur Verschönerung der Welt. Sie werden auch nicht als Belohnung gewährt für besondere Tugendhaftigkeit.

Schon Jesus war es unwohl dabei, wenn er Wunder als ultimativen Leistungsbeweis wirken sollte. Himmlische Kraftmeierei lag ihm fern. „Was willst du von mir, Frau?“, fährt er seine Mutter schroff an, als die ihn auf der Hochzeit in Kana bittet, Wasser in Wein zu verwandeln. In der Wüste versucht ihn der Teufel und fordert ihn auf, er solle doch Steine in Brot verwandeln, wenn er Gottes Sohn sei. Jesus geht darauf nicht ein und antwortet nur kühl: „Der Mensch lebt nicht von Brot allein.“

Zwei geheilte Nonnen

Auch Johannes Paul II. und Johannes XXIII., die Papst Franziskus in einer Woche heilig sprechen will, werden wundersame Phänomene zugesprochen. Johannes Paul II. soll eine Nonne von Parkinson und eine andere fromme Frau von ihrer Gehirnverletzung befreit haben. Johannes XXIII. soll eine italienische Nonne nach einem Magendurchbruch gerettet haben. Die Seligen und Heiligen vollbringen die ihnen zugeschriebenen Wunder nach katholischem Verständnis nicht selbst, sondern Gott wirkt auf ihre Fürsprache hin. Die Wunder sollen beweisen, dass die Verstorbenen ganz und gar bei Gott angekommen sind. Und zwar mit ärztlichen Attesten und nach einem festgelegten Verfahren. So macht die katholische Kirche aus Wundern einen Verwaltungsvorgang. Sie schrumpft und zerkleinert das Unerklärliche und Außergewöhnliche, bis es zwischen zwei Aktendeckel passt.

Staunen und Vertrauen

Aber wer braucht überhaupt noch fliegende Pater und geheilte Nonnen für seinen Glauben? Ist Gott nicht viel größer, als dass er seine Kraft durch solche „Zeichen“ beweisen müsste? Und nichts gegen die Nonnen. Aber warum sind es eigentlich so oft Nonnen und Mönche, deren Leben gerettet wird? Ist das nicht ungerecht? Was ist mit den vielen anderen Todgeweihten, die Gott um Hilfe anflehen?

Die positivistischen Versuche der Kirche, die Wunder zu objektivieren, wirken hilflos, bisweilen auch skurril. Das Eigentliche gerät dabei aus dem Blick: die ungeheure Kraft und die große Hoffnung, die ein außergewöhnliches, unerklärliches Ereignis freisetzen kann. Dafür braucht es keine strenggläubige Regelhaftigkeit und bürokratischen Verfahren, sondern die Fähigkeit zu staunen und den Mut, auf das Unmögliche zu vertrauen.

Contra: Unerklärt ist nicht gleich unerklärlich

„Wie ein Blitzstrahl“ habe es ihn durchfahren, berichtete der Benediktinermönch Leo Schwager später. Der Schweizer stürzte mitten in der Segensandacht aus seinem Rollstuhl und fiel auf die Knie. Lähmungen, Sprach- und Schluckstörungen, die ihn seit Jahren gequält hatten, waren mit einem Schlag verschwunden. Das war 1952 in Lourdes. Bruder Leo war mit einer Wallfahrergruppe dorthin gereist, die Diagnose seiner Ärzte lautete: Multiple Sklerose. Er lebte noch bis 2004, ohne dass die Beschwerden jemals wiederkehrten. 1960 wurde die plötzliche Veränderung seines Zustands als Heilungswunder anerkannt, nach jährlichen gründlichen Untersuchungen und auf der Basis des Urteils des lokalen Bureau Médical und des 1954 gegründeten Internationalen Medizinischen Komitees Notre Dame de Lourdes. Es sind Ärztegremien, die es sich nicht leicht machen: Von den mehr als 4000 Heilungen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts dokumentiert sind, wurden bisher nur 69 als „medizinisch nicht erklärbar“ gewertet. Zu den Kriterien, die in Lourdes für eine solche Anerkennung erfüllt sein müssen, gehört nicht nur, dass die Heilung plötzlich geschieht und vollkommen ist, dass keine Medikamente im Spiel sind und dass es auch Jahre später keinen Rückfall gibt. Zentral wichtig ist auch, dass es sich um ein Leiden handelt, das gar nicht oder nur schwer zu heilen ist.

Adelheid Müller-Lissner.
Adelheid Müller-Lissner.

© Kai-Uwe Heinrich

Keine Heilung möglich

Multiple Sklerose (MS) ist eine solche chronische Krankheit. Es gibt auch heute keine Heilung, trotz vieler Fortschritte beim Aufhalten und Lindern. Allerdings ist MS traditionell unter Neurologen als die „Krankheit mit den tausend Gesichtern“ bekannt, eine Prognose für den einzelnen Patienten ist also schwierig. In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts war zudem noch nicht einmal die Diagnose ganz sicher – im Unterschied zu heute, wo sie etwa durch eine Magnetresonanztherapie gestützt wird. Wir wissen nicht, ob im Gehirn von Bruder Leo wirklich die für eine MS typischen Veränderungen stattgefunden hatten oder ob er womöglich unter psychisch bedingten Lähmungen litt. Was wir hingegen wissen: Der medizinische Fortschritt hat sich im Lauf der Jahre auf die Anerkennungspraxis der medizinischen Kontrollgremien in Lourdes und Fatima ausgewirkt: So gab es, seit Tuberkulose auf dem Röntgenbild sichtbar gemacht werden kann, auf diesem Gebiet keine anerkannten Wunderheilungen mehr. Insgesamt sind sie in den vergangenen Jahrzehnten deutlich weniger geworden.

Theologen entscheiden

Über die Einstufung einer unerklärlichen Heilung als Wunder entscheiden ohnehin nicht Ärzte, sondern Theologen. Ein Wunder sei eine Verletzung der Naturgesetze, so definierte David Hume. Ein Internist und Krebsspezialist wie Herbert Kappauf ist dagegen mit deren intelligenter Nutzung beschäftigt: Sein Alltag besteht zu großen Teilen im Verordnen und Verabreichen von Medikamenten, die Gift für die Krebszellen sind. Schon in seiner Zeit als Oberarzt im Klinikum Nürnberg hat Kappauf sich jedoch auch mit Spontanheilungen in der Onkologie beschäftigt, zusammen mit seinem Chef Walter Gallmeier auch darüber geforscht und später das Buch „Wunder sind möglich. Spontanheilung bei Krebs“ veröffentlicht. „Schulmediziner“ Kappauf plädiert darin dafür, das Phänomen nicht „der naiven oder unlauteren Instrumentalisierung durch Gurus und Scharlatane“ zu überlassen.

Ärzte sind vorsichtig, sie sprechen nicht gleich von Heilung, sondern zunächst einmal von einer „Remission“, vor allem in der Krebsmedizin. Spontane Rückbildungen von Tumoren ohne jede Therapie – oder unter einer Behandlung, die nach menschlichem Ermessen dafür nicht ausreicht – sind extrem selten. Bei einigen Tumorarten kommen sie eher vor als bei anderen: Neuroblastome bei Kindern, Basalzellkarzinome der Haut, aber auch Nierenzellkarzinome gehören dazu.

Bilden Tumore sich zurück?

Doch was ist vom Fall einer Frau mit kleinzelligem Lungenkrebs zu halten, über den im Jahr 2000 in der Fachzeitschrift „Onkologie“ berichtet wurde? Selbst bei Ausschöpfung aller Behandlungsmöglichkeiten ist ein solcher Krebs meist nicht lange in Schach zu halten, nach fünf Jahren ist nur noch einer von zwanzig Patienten am Leben. Die Patientin brach jedoch die Chemotherapie nach kurzer Zeit ab. Sie bekam Metastasen im Gehirn, die ihr starke Beschwerden machten, trotzdem stimmte sie nur einer kurzen Bestrahlung in niedriger Dosis zu. 15 Jahre später waren – auf einem wegen eines Sturzes im Altersheim angefertigten CT – keine Metastasen mehr in ihrem Kopf zu erkennen.

Auch bei Brustkrebs ist ein solcher Verlauf extrem unwahrscheinlich. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass kleine Tumoren sich bisweilen von selbst zurückbilden könnten. Diese Hoffnung leitet sich zum Beispiel aus einer trickreichen Studie aus Norwegen ab, die 2008 in den „Archives of Internal Medicine“ veröffentlicht wurde: Die Forscher um Per-Hendrik Zahl hatten sich zunutze gemacht, dass dort schon 1997 das Mammografie-Screening eingeführt wurde. Sie hatten zwei Gruppen von jeweils knapp mehr als 100 000 Frauen verglichen: Frauen, die zwischen 1996 und 2001 drei Mammografien bekamen und Frauen, die zwischen 1992 und 1997 beobachtet und nur einmal, 1997, geröntgt wurden. Im Krebsregister zeigte sich, dass es bei ihnen etwas weniger echte Brustkrebsfälle gab. Die Studie wurde viel diskutiert, eine Erklärung ist, dass bei engmaschigen Untersuchungen wie dem Mammografie-Screening viele Knoten entdeckt werden, die zwar bösartig sind, aber lebenslang „ruhen“ oder sich sogar zurückbilden. Als „Wunder“ können solche Rückbildungen schon deshalb nirgendwo verbucht werden, weil die kleinen Geschwulste entweder nie diagnostiziert oder aber gleich behandelt werden.

Das Immunsystem hilft

So erstaunlich sie auch sein mögen: Eine „Verletzung der Naturgesetze“ muss man nicht annehmen, um solche spontanen Rückbildungen von Tumoren zu erklären. Fehlgebildete, wuchernde Zellen können vom körpereigenen Immunsystem bekämpft werden, ein Tumor kann den Anschluss an die für ihn überlebensnotwendige Blutversorgung verpassen, eine hormonelle Umstellung kann ihm den Boden entziehen. Das Phänomen von Spontanremissionen könne als „natürliches Modell biologischer Tumorkontrolle“ aufgefasst werden und die Medizin könne davon lernen, meint Kappauf. Was der Körper hier von selbst tut, könnte auch durch Therapien angestoßen werden – sofern man sich anstrengt und wissenschaftliche Methoden bemüht, um das Ungewöhnliche zu verstehen.

"Droge Arzt"

Dazu gehört auch die Frage nach dem Einfluss psychologischer Faktoren auf den Verlauf einer Krebserkrankung. Wir wissen, dass die „Droge Arzt“ wirkt, wenn sie nur richtig eingesetzt wird. Vielfach untersucht ist auch die Wirkung von Scheinmedikamenten. Kann ein Krebspatient es durch eigenes Verhalten wahrscheinlicher machen, zum „positiven Ausreißer“ aus der Medizinstatistik zu werden? Dieser Frage hat sich der Journalist Ian Barasch zusammen mit der Biochemikerin Caryle Hirshberg in seinem 1995 auf Deutsch erschienenen und schnell populär gewordenen Buch „Unerwartete Genesung“ gewidmet. Barasch, der zuvor selbst eine Krebskrankheit glücklich überstanden hatte, ist überzeugt davon, dass Krebskranke, die gegen alle medizinische Wahrscheinlichkeit geheilt wurden, überdurchschnittlich häufig durch die Diagnose einen besonderen Einklang mit sich gefunden haben und sich in sozialen Beziehungen gut aufgehoben fühlen.

Beten hilft wohl nicht

Hilft es bei der Heilung, wenn jemand für den Patienten betet? Die berühmte „Gebets-Studie“ mit Herzpatienten, über die im April 2006 im „American Heart Journal“ berichtet wurde, spricht dagegen: Patienten, für die ohne ihr Wissen vor einer Bypass-Operation gebetet wurde, ging es nachher genauso gut oder schlecht wie einer Kontrollgruppe, für die das nicht getan wurde. Patienten, die wussten, dass jemand für sie betete, fühlten sich nach dem Eingriff sogar schlechter. Vielfach wurde kritisiert, dass es hier Fremde waren, die für einen unbekannten Menschen Gebete sprachen. Manche Kommentatoren mutmaßten auch, die Herzpatienten habe die Frage umgetrieben: Ist mein Zustand so schlimm, dass Leute für mich beten müssen?

Anreiz zum Verstehen

Die schwerkranken Wallfahrer von Lourdes wissen das schon, sie hoffen auf ein Wunder. Keiner von ihnen dürfte aber etwas dagegen haben, dass die Medizin schon so weit wäre, sein Leiden zu heilen. „Wunder sind nicht wider die Natur, sondern nur gegen die uns bekannte Natur“, hat der Kirchenvater Augustinus geschrieben. Moderner gesprochen: Spontanheilungen sind nicht nur wunderbar, sondern auch ein Anreiz zum Verstehen von biologischen und psychologischen Zusammenhängen.

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