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Angela Merkel im Europaparlament in Straßburg.

© dpa/PATRICK SEEGER

Die Kanzlerin in der Flüchtlingskrise: Angela Merkel kämpft an mehreren Fronten

Die Bundeskanzlerin im Gegenwind: Die CSU und Teile der Union rebellieren gegen ihren Flüchtlingskurs, ihre Machtbasis ist in Gefahr. Wie reagiert Angela Merkel?

Dass die Deutschen die Ankunft von Flüchtlingen beklatschten – dieses Sommermärchen scheint lange her. Nun beklagen Kommunen und Länder die Überforderung durch den nicht nachlassenden Strom von Asylbewerbern. Die Stimmung droht zu kippen. Teile der Union rebellieren gegen den Öffnungskurs von Kanzlerin Angela Merkel, die Umfragewerte der Union geben nach. Die Kritik zeigt Wirkung: Merkel, die in ihrer Amtszeit das Risiko immer gescheut hat, reagiert. Erst ordnet sie mit einem Paukenschlag die Zuständigkeit für Flüchtlinge in der Regierung neu. Dann verteidigt sie ihren Kurs offensiv und macht klar: Ändern will sie ihn nicht.

Was bedeutet die Neuordnung der Flüchtlingspolitik in der Regierung?

Die Neuordnung mag zwar tatsächlich Reibungsverluste in der Regierung verringern und zu einer besseren Abstimmung der verschiedenen Ressorts beitragen. Vor allem aber ist sie von symbolischer Bedeutung: Die Regierungschefin hat die politische Verantwortung für die historische Aufgabe sichtbar an sich gezogen. Damit geht sie aber auch Risiken ein, falls die Lage sich nicht schnell bessert.

Die politischen Entscheidungen in Flüchtlingsfragen sollen künftig stärker direkt im Bundeskanzleramt gebündelt werden, Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) übernimmt die politische Gesamtkoordination. Das Konzept sieht vor, dass das Bundesinnenministerium an der Spitze eines Lenkungsausschusses steht, in dem alle mit Fragen der Flüchtlingshilfe befassten Ressorts vertreten sind. Darunter sind unter anderem das Finanz-, das Arbeits- und das Bauministerium sowie das Auswärtige Amt und das Entwicklungsministerium.

Wird Innenminister Thomas de Maizière (CDU) damit entmachtet?

Wenn der Innenminister seine Behörden frühzeitig auf die wachsende Zahl von Asylbewerbern eingestellt und seine Arbeit überzeugend erledigt hätte, wäre die Neuordnung der Flüchtlingspolitik nicht notwendig gewesen. Nun nimmt die Kanzlerin keine Rücksicht auf das Renommee des Parteifreundes. "Wie man den eigenen Innenminister so demütigen kann, ist mir rätselhaft", sagt ein Regierungsvertreter. Im Kabinett ließ sich de Maizière nichts anmerken, als am Mittwoch die Neuordnung behandelt wurde. Ausdrücklich lobte er die Reform. Auch öffentlich vertritt er die These, der Beschluss sei "ein weiterer wichtiger Schritt", um die Herausforderungen zu bewältigen. Er selbst habe ihn vorgeschlagen. Während de Maizière die politische Koordinierung der Flüchtlingspolitik ans Kanzleramt verliert, ist er operativ weiter für die Abstimmung zuständig.

Kann Kanzleramtsminister Altmaier die Krise besser meistern?

Es ist nicht das erste Mal, dass Altmaier in einer Notlage für Merkel einspringt: Nachdem die Kanzlerin vor drei Jahren Umweltminister Norbert Röttgen (ebenfalls CDU) entließ, übernahm der Saarländer ohne Vorbereitung dessen Amt. Nun fällt die politische Gesamtkoordination der Flüchtlingspolitik an den Kanzleramtschef. Nicht alle in der Regierung glauben daran, dass er schnell bessere Ergebnisse erzielen wird als de Maizière. So wundert man sich in der SPD, dass Merkel einen Politiker mit der Aufgabe betraut, der schon im Alltagsgeschäft der Regierungskoordination keinen guten Eindruck hinterlasse. Wichtiger aber noch ist: Altmaier verfügt als Politiker nicht über die Statur, um die Bürger davon zu überzeugen, dass die Regierung in der Flüchtlingskrise die Kontrolle zurückgewinnt. Altmaier übernimmt somit zwar eine wichtige neue Funktion für Merkel, die politische Verantwortung trägt Merkel – und nur Merkel.

Wie will Merkel die Bürger von ihrem Öffnungskurs überzeugen?

Der Druck auf die Kanzlerin wächst: Der Protest aus den Reihen der Union gegen ihren Öffnungskurs wird immer lauter und radikaler. Zugleich messen Demoskopen Zulauf für die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD). Die Kanzlerin hat daraus den Schluss gezogen, dass sie die Menschen direkt ansprechen muss, um sie zu erreichen. Am Sonntag begründete sie in einem langen Interview mit dem „Deutschlandfunk“, warum sie auch heute wieder wie Anfang September zur Öffnung der Grenzen entscheiden würde. „Sich jetzt wegzuducken und zu hadern, das ist nicht mein Angang.“

Am Mittwochabend war Merkel als einziger Gast bei der ARD-Talkshow „Anne Will“. Titel der Sendung: „Die Kanzlerin in der Flüchtlingskrise – Können wir es wirklich schaffen, Frau Merkel?“ Dabei wies die Bundeskanzlerin wiederholt darauf hin, dass es darum gehe, wieder geordnete Verhältnisse zu schaffen. Es gehe darum, im eigenen Land die Aufgaben zu bewältigen und gleichzeitig darum, die Ursachen in den Ländern zu bekämpfen, aus denen die Flüchtlinge kommen. Merkel wies wiederholt auf die große Leistung derjenigen hin, die in Deutschland bei der Bewältigung der Aufgaben helfen. „Ich bin voller Dankbarkeit und Hochachtung für alle, die dabei sind, die die Last zu tragen haben. Ich sehe, dass viele im Augenblick alles geben, auch wenn es über ihre Grenzen geht.“ Zu der Kritik von Horst Seehofer an ihrer Flüchtlingspolitik betonte Merkel, wie groß die Leistung des bayerischen Ministerpräsidenten und der bayerischen Behörden bei der Bewältigung der Probleme seien. „Er arbeitet Tag und Nacht, um die Aufgabe zu bewältigen“, sagte Merkel über Seehofer.

Sie wandte sich entschieden gegen eine Abschreckung von Flüchtlingen. „Ich werde mich nicht an einem Wettbewerb beteiligen, wer sich am unfreundlichsten gegenüber Flüchtlingen verhält, damit sie nicht mehr kommen.“ An dieser Stelle gab es Applaus im Publikum.

Wie groß ist die Chance Merkels, ihre Kritiker in der Union wieder einzufangen?

Auch die heftigsten Kritiker wissen natürlich, dass der Kanzlerwahlverein CDU ohne seine Vorsitzende einpacken kann. Umgekehrt weiß Angela Merkel, dass sie ihre bürgerlich-konservativen Parteigänger in der Flüchtlingskrise nicht überfordern darf. Und beide Seiten wissen, dass jede irgendgeartete Radikal-Kehrtwende für die Kanzlerin einen nicht wieder gut zu machenden Gesichtsverlust bedeuten würde. Gefragt ist also die hohe Kunst des Sowohl als Auch. Damit angefangen hat Merkel bereits am vergangenen Wochenende mit ihrer Videobotschaft. Sie lautete, auf den Punkt gebracht, dass zwar Verfolgte Schutz fänden, Wirtschaftsflüchtlinge jedoch schleunigst wieder zu verschwinden hätten – und dass man dabei "noch konsequenter" sein müsse. Merkel spürt, und das zeigt sich auch an diesen Auftritten, dass sie kämpfen muss wie kaum zuvor in ihrer Kanzlerschaft. Die protestantische Haltung des "Hier stehe ich und kann nicht anders" verschafft ihr selbst bei Gegnern einen Sympathiebonus. Und so lange es in den Unionsreihen noch wichtige Protagonisten wie Seehofer oder de Maizière gibt, die heftigere Töne anschlagen, lassen sich – altes CSU-Rezept – auch Verärgerte zähneknirschend bei der Stange halten. Die Chancen, die Kritiker wieder für sich einzunehmen, sind also hoch – schon weil es in der Union zu Merkel derzeit keine Alternative gibt. Sie hängen allerdings auch davon ab, ob und wie Deutschland am Ende tatsächlich mit der Flüchtlingskrise fertig wird.

Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Francois Hollande am Mittwoch im Europaparlament in Straßburg.
Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Francois Hollande am Mittwoch im Europaparlament in Straßburg.

© dpa

Welche Hebel zur Minderung des Zustroms hält Merkel in der Hand?

Bei Lichte betrachtet: keinen einzigen, der schnelle Wirkung verspricht. Auf internationaler Ebene will die Kanzlerin Fluchtursachen bekämpfen, auf europäischer eine gerechtere Verteilung und eine Sicherung der EU-Außengrenzen erreichen, auf nationaler vor allem die Asylverfahren beschleunigen, die Unterbringung der Flüchtlinge ermöglichen und Voraussetzung für deren Integration schaffen. Kurzfristige Wirkung könnte allein die Sicherung der EU-Außengrenze durch die Türkei erzielen. Doch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verlangt dafür von der EU einen Preis – und hat sich bislang noch nicht einbinden lassen. Zudem ist der Plan auch nicht ohne moralische Risiken für Merkel, denn Erdogan ist ein schwieriger Partner.

Warum ist Europa beim Versuch der Bewältigung der Krise so wichtig?

Wie schnell die Flüchtlingskrise zur Abschottung einzelner EU-Staaten führen kann, wurde deutlich, als Ungarn seine Grenze zu Serbien dichtmachte. Vor dem Europaparlament in Straßburg warnte Merkel am Mittwoch davor, wieder "in nationalstaatliches Handeln" zurückzufallen. "Abschottungn und Abriegelung in Zeiten des Internet sind eine Illusion", sagte sie. "Gerade jetzt brauchen wir mehr Europa", betonte die Kanzlerin. "Deutschland und Frankreich sind dazu bereit", sagte Merkel bei ihrem gemeinsamen Auftritt mit den französischen Präsidenten François Hollande. Eine Gemeinschaftsaufgabe ist in den Augen der Kanzlerin auch die Verteilung der Flüchtlinge auch die Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Mitgliedstaaten. "Ein erster Schritt ist gemacht", sagte Merkel mit Blick auf den Beschluss der EU-Innenminister, 120 000 Flüchtlinge auf die europäischen Mitgliedstaaten zu verteilen.

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