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Politik: „Die Kapitalismuskritik ist wie ein Tauchsieder“ Der NRW-Vizeministerpräsident Michael Vesper über Wahlkampf, Peer Steinbrück und Religion

SPD und Grünen-Politiker aus NRW haben Außenminister Joschka Fischer dazu gedrängt, vor der Wahl am 22. Mai im Visa-Ausschuss auszusagen.

SPD und Grünen-Politiker aus NRW haben Außenminister Joschka Fischer dazu gedrängt, vor der Wahl am 22. Mai im Visa-Ausschuss auszusagen. Was hat sein Auftritt nun bewirkt?

Für unseren Wahlkampf hat sich die Visa-Affäre spätestens dadurch erledigt. Das Thema spielt keine Rolle mehr.

Weil sich Grünen-Anhänger nicht für eigene Fehler interessieren?

Die CDU hatte sich ein Wahlkampfthema erhofft nach dem Motto: Die Grünen verschweigen und vertuschen. Das Gegenteil ist passiert. Fischer hat zwölfeinhalb Stunden demonstriert, dass wir an Aufklärung interessiert sind und die Vorwürfe aufgebauscht waren. Seither hat das Thema jede Dramatik verloren.

Ist der Visa-Komplex vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit für die SPD gefährlicher als für die Grünen?

Nur wenn man beides mutwillig verbindet. Leider wurde der falsche Zusammenhang von Visa-Missbrauch und Arbeitslosigkeit auch von manchen Sozialdemokraten hergestellt…

Sie denken an den SPD-Landesvorsitzenden Harald Schartau?

Auch er hat anfangs diese Verbindung gezogen, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Die Kriminalitäts- oder Schwarzarbeiterzahlen sind infolge des Visa-Missbrauchs in den Jahren 2000 bis 2002 nicht in die Höhe geschnellt. Und mit den aktuellen Zahlen haben sie schon gar nichts zu tun.

Sind die Wähler der Grünen da klüger als die der SPD, weil sie selbst weniger von sozialem Abstieg bedroht sind?

Nein. An diesen falschen Zusammenhang glaubt doch die Opposition selbst nicht mehr – auch CDU-Wähler nicht.

Die Angst vor Arbeitslosigkeit ist aber bei SPD-Wählern weiter verbreitet als bei solchen der Grünen, die eher zu den Besserverdienenden gehören.

Auch Grüne sind von Arbeitslosigkeit betroffen. Aber es ist richtig: Die Verunsicherung ist bei SPD-Wählern größer.

Die SPD hat Ende der 50er Jahre mit dem Godesberger Programm einen radikalen Wandel vollzogen. Brauchen die Grünen nicht ein Bad Godesberg – bezogen auf das Verhältnis von Umweltschutz und Arbeitsplätzen?

Wir können nicht nach Bad Godesberg gehen, die Stadthalle dort wird gerade renoviert.Aber im Ernst: Arbeitsplätze stehen doch längst im Zentrum unserer Politik. Vor drei Wochen haben wir in Gelsenkirchen ein Programm „Vorrang für Arbeit mit Zukunft“ beschlossen, damit ermöglichen wir Hunderttausende neue Jobs.

Was nützt ein Papier, das bei den Menschen nicht ankommt? Sehen von Abstiegsängsten geplagte Menschen die Grünen als ihre politischen Vertreter?

Die Kompetenzwerte der Grünen beim Thema Arbeitsplätze und Wirtschaftspolitik sind tatsächlich noch relativ gering. Aber wir holen auf, setzen auf die Verbindung von ökologischer und sozialer Modernisierung. Das Engagement für Schwächere ist Teil unserer Identität. Arbeitsplätze und Ökologie sind kein Gegensatz.

Viele Betriebsräte sehen das anders.

Der Koordinator des bundesweiten Betriebsräteforums, Thomas Schlenz von Thyssen-Krupp, hat auf unserem kleinen Parteitag für die Fortsetzung von Rot- Grün in Düsseldorf geworben. Die allermeisten Arbeitnehmervertreter trauen uns zu, ökonomische und ökologische Innovationen auf den Weg zu bringen, ohne den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu gefährden. Sie wissen genau, dass wir im Gegensatz zu Schwarz-Gelb eben nicht den sozialen Kahlschlag, sondern den Erhalt des Sozialstaats im Sinn haben.

Stichwort „sozialer Kahlschlag“: Müssen Sie SPD-Chef Franz Müntefering nicht auf Knien danken, dass er mit seiner Kapitalismuskritik etwas auf den Punkt bringt, was man von den Grünen so lange nicht hörte?

Das ist eine wichtige und überfällige Debatte, auch wenn Franz Müntefering sie nicht erfunden hat. Aber es ist wahr: Er hat diese Gedanken zum richtigen Zeitpunkt ausgesprochen. Die Debatte wirkt tief ins Unionslager hinein und spaltet die CDU. Manche Unternehmer sind schnell dabei, über den Standort zu schimpfen. Dabei sind ihre starken Schultern nicht zum Zucken da, sondern auch dazu, soziale Verantwortung zu tragen.

Wie wirkt die Kapitalismus-Debatte?

Die Debatte wirkt wie ein Tauchsieder. Die Temperatur des Wahlkampfs steigt endlich. Auch die Sozialdemokraten haken sich wieder unter.

Aus Sicht der Grünen mussten die SPD- Wahlkämpfer in Nordrhein-Westfalen erst aufgeweckt werden?

Ich begrüße sehr, dass Müntefering die Sozialdemokraten neu motiviert hat.

Rettet die Kapitalismus-Kritik das rot- grüne Projekt, das eigentlich schon am Boden liegt?

Ich sehe uns nicht am Boden, sondern putzmunter und aufrecht kämpfen.

Eine Mehrheit sieht das nach den Umfragen ganz anders.

Das sind Momentaufnahmen. Immer noch ist knapp die Hälfte der Wähler nicht entschieden, ob sie überhaupt und wen sie wählen wird. Der Wind dreht sich.

Die SPD-Politikerin Ute Vogt hat Verbraucher aufgefordert, Unternehmen zu strafen, die sich unsozial verhalten und Arbeitsplätze exportieren. Ist das eine richtige Anregung?

Zum Boykott von Unternehmen aufzurufen, ist ein zwiespältiger Weg, weil er immer auch zu Lasten der Arbeitnehmer geht. Es ist aber grundsätzlich richtig, dass Verbraucher Macht haben und etwa gentechnisch veränderte Lebensmittel vom Markt drängen können.

Deshalb die Frage: Warum soll nicht auch gesellschaftspolitisch wirken, was ökologisch sinnvoll ist?

Es gibt da keine einfachen Antworten. Im Einzelfall kann das richtig sein.

Da sind manche Unternehmer mutiger als Sie. Der Chef der Drogeriemarkt-Kette DM, Götz Werner, sagt, die Käufer sollen bewusst hinschauen, was Unternehmen im sozialen Bereich für ihre Mitarbeiter tun, und sich dann auch danach richten. Warum gehen Sie dahinter zurück?

Erstens sagt er das als Konkurrent anderer Drogeriemärkte. Zweitens ist es gut, wenn Verbraucher sehr bewusst einkaufen. Aber mit dem Boykott als politisches Kampfmittel muss man vorsichtig sein.

Ministerpräsident Peer Steinbrück hat sich ein Macher-Image erarbeitet, tritt gemeinsam mit wichtigen Vertretern der Großindustrie auf. Bringt ihn die Kapitalismus- Kritik nicht in ein Dilemma?

Nein. Er hat seine Haltung vor zehn Tagen im Landtag gut erklärt. Der Ministerpräsident kennt wie ich viele Unternehmer, die den Standort nicht nur als eine ökonomische Größe betrachten. Aber man muss sich nicht jede Provokation gefallen lassen. Wenn etwa Arbeitgeberchef Dieter Hundt, nachdem die Bundesregierung die Körperschaftssteuer nochmals auf 19 Prozent senken will, sofort die nächste Forderung nachschiebt, ist das unverschämt. Erstaunlich war an diesem Tag, dass Herausforderer Jürgen Rüttgers lieber in der Kantine Kaffee trank, statt seine Meinung zu sagen.

Was zeigt Ihnen das?

Jürgen Rüttgers hat offenbar ein Schweigegelübde abgelegt. Wo er es einmal bricht, wie in der Talksendung mit Michel Friedmann, hat er gleich daneben gelangt.

Jürgen Rüttgers hat seinen Satz, das katholische Menschenbild sei anderen überlegen, doch schnell relativiert.

Wenn man dieses Interview ganz nachliest, sieht man, dass das kein Ausrutscher war. Er denkt wirklich so.

Darf man das nicht?

Als Ministerpräsident darf man sich natürlich zum eigenen Glauben leidenschaftlich bekennen. Ich bin selbst überzeugter Katholik. Aber man darf seine Religion nicht über andere stellen. Das Letzte, was wir in NRW mit seinen hundert Religionsgemeinschaften brauchen, ist einer, der polarisiert.

Was machen Sie nach dem 22. Mai, wenn Rot-Grün abgewählt wird?

Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Damit beschäftige ich mich nicht. Wenn ich das tun würde, müsste ich einen Teil meiner Energie darauf verwenden. Die brauche ich aber zu 150 Prozent für den Wahlkampf. Wenn es, was ich nicht glaube, doch schief gehen sollte, habe ich genügend Zeit über die Zukunft nachzudenken.

Das Gespräch führten Hans Monath und Jürgen Zurheide. Das Foto machte Christoph Papsch.

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