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2010

© picture-alliance / Burkhard Juet

Politik: Die Kindeskinder des Olymp

Verklärung, Verachtung, Verteufelung: Das deutsch-griechische Verhältnis steckt in der Krise – nicht erst seit Staatsbankrott und Rettungsschirm

Es war der Höhepunkt der sogenannten Stinkefinger-Affäre, die auch schon recht historisch anmutet, obwohl sie erst wenige Monate zurückliegt. Griechenland drohte der Staatsbankrott, und dadurch drohte irgendwie auch der Zusammenbruch der gesamten Euro-Zone. Die Mehrheit der deutschen Medien reagierte mit Schuldzuweisungen, Häme und Überheblichkeit. „Bild“ fuhr eine diffamierende Kampagne über die „Pleite- Griechen“ und entwarf in immer grelleren Farben das immer gleiche Szenario: Korrupter Grieche vertanzt seine erschwindelte Rente auf dem Tisch einer Insel-Taverne oder puhlt mit vergoldeten Souvlaki-Spießen in den Zähnen, weshalb der anständige Deutsche um seine Altersvorsorge fürchten muss. Der „Focus“ zeigte auf dem Cover eine Aphrodite, die dem Betrachter den Stinkefinger entgegenstreckt, und behauptete, die Griechen hätten seit 2000 Jahren dekadent gelebt. Und schließlich stimmten auch Politiker in den Chor der Überheblichen ein: Die CDU-Abgeordneten Schlarmann und Wanderwitz rieten den Griechen süffisant, zur Begleichung ihrer Schulden doch ein paar Inseln zu verscherbeln.

Teile der griechischen Öffentlichkeit jaulten vor Empörung förmlich auf. Als Retourkutsche wurde in einer Zeitschrift eine Viktoria auf der Siegessäule gedruckt, die statt des Lorbeerkranzes ein Hakenkreuz hochhielt. „Finanznazitum bedroht Europa“, hieß es dazu. Ein Verbraucherverband rief zum Boykott deutscher Produkte auf, und Vizepräsident Pangalos polterte, Deutschland habe während des zweiten Weltkrieges Griechenlands Wirtschaft ruiniert und tausende Griechen ermordet. Auch von ausstehenden Reparationszahlungen war die Rede.

Bei der Deutschen Botschaft in Athen raufte man sich die Haare: Der damalige Botschafter Wolfgang Schultheiß rief die Bevölkerung dazu auf, „einzelne Medienberichte nicht mit der differenzierten deutschen öffentlichen Meinung zu Griechenland zu verwechseln“. Die Kontroverse werde den guten deutsch-griechischen Beziehungen „nicht gerecht“.

Tatsächlich, die Wogen glätteten sich. Kaum war das Rettungspaket für Griechenland beschlossen, verlor die deutsche Berichterstattung an Schärfe. Reporter wurden nach Athen geschickt, um herauszufinden, wie die griechische Wirklichkeit tatsächlich aussieht, und kamen zu der überraschenden Erkenntnis, dass die Durchschnittsrente nur 617 Euro beträgt. Quotengriechen saßen in jeder deutschen Talkshow und erklärten sich. Der Grieche ist pro Familie, sagte der Quotengrieche dann aber doch, irgendwie gegen den Staat. Am vorläufigen Ende des Erregungsbogen stand der versöhnliche Reisebericht, der die Schönheit der Landschaft und das plastische Licht pries und dem Leser eine Reise an die Ägäis nahelegte. Denn wenn jetzt noch die Touristen wegbleiben ...

Inzwischen ist das Thema Griechenland durch. Berichtet wird nur noch, wenn, wie gerade geschehen, ein Streik der Lastwagenfahrer die Benzinversorgung unterbricht und damit den gesamten Verkehr lahmlegt. Aber was ist mit den deutsch-griechischen Beziehungen? Sind auch die nun wieder gut? Nein, denn sie waren es auch vor der Krise nur bedingt. Wenn die Stinkefinger-Kontroverse ein Gutes hatte, dann ihre Wucht, ihre reflexhafte Heftigkeit. Sie hat gezeigt, dass unter dieser bilateralen europäischen Erfolgsgeschichte grundsätzlich etwas im Argen liegt.

Worauf stützt sich die Floskel von der „traditionellen Freundschaft zwischen Deutschen und Griechen“ überhaupt? Deutschland ist seit Jahrzehnten neben Italien der wichtigste Handelspartner Griechenlands. 2008 erreichten die deutschen Warenausfuhren einen Wert von 8,3 Milliarden Euro. Zugleich ist Deutschland wichtigster Kunde der griechischen Exporteure, annähernd zehn Prozent aller griechischen Exporte gehen nach Deutschland – Nahrungsmittel, Zement und Textilien. Umgekehrt importiert Griechenland Medikamente, Fahrzeuge, Maschinen und andere technische Erzeugnisse. Deutschland ist einer der größten Investoren in Griechenland. 180 deutsche Firmen, so das Auswärtige Amt, beschäftigen in Griechenland 22 000 Mitarbeiter. Ohne Firmen wie Hochtief hätte die neue Athener Metro oder der neue Flughafen in Sparta nicht gebaut werden können. Außerdem übernahm die Telekom 30 Prozent des führenden griechischen Telekommunikationsunternehmens OTE.

Wer jemals in Griechenland Taxi gefahren ist, weiß von deutsch sprechenden Taxifahrern freilich, dass die deutsch-griechische Freundschaft sich auch auf die Lebenserfahrung vieler Griechen bezieht. Erst vor wenigen Monaten wurde der 50. Jahrestag des „Abkommens über die Anwerbung und Vermittlung von griechischen Arbeitnehmern“ gefeiert, der 1960 regelte, wie und wie viele Griechen nach Deutschland ziehen durften. Es kamen Hunderttausende, meist aus dem damals bitterarmen Norden des Landes, um hier zu arbeiten oder zu studieren. Jeder zehnte Grieche hat längere Zeit in Deutschland gelebt, 320 000 Griechen tun es noch immer. 40 000 Griechen haben ihre Berufsausbildung ganz oder teilweise in Deutschland absolviert. Das große Interesse griechischer Schüler an deutscher Sprache und Kultur ist seit Jahrzehnten ungebrochen. Weltweit nehmen die Goethe-Institute in Griechenland jährlich die meisten Sprachprüfungen ab, 2008 waren es knapp 27 000.

Während seit den sechziger Jahren Griechen nach Norden strömten, entdeckten die Deutschen ihrerseits die „unberührten“ griechischen Inseln. Erst waren es die Hippies, die in lustigen Höhlenkommunen von Matala an Kretas Südküste das einfache Leben predigten. Dann folgte der Massentourist, der in Bettenburgen auf Rhodos oder Samos mit lauwarmer Moussaka abgefertigt wurde, während sich der Individualreisende in die malerischen Bergdörfer des Peloponnes verliebte. Wie viele ehemalige deutsche Studienräte heute in restaurierten Steinhäusern an griechischen Küsten ihre Rente genießen, verzeichnet die Statistik des Auswärtigen Amtes leider nicht.

All das belegt die „guten Beziehungen“ zwischen beiden Ländern. Hauptsächlich aber gründet die deutsch-griechische Freundschaft auf der romantischen Griechenlandschwärmerei deutscher Philhellenen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Diese unterstützten die Griechen nicht nur ideell bei ihrem Freiheitskampf gegen die Osmanen, sondern auch ganz praktisch beim Aufbau eines neugriechischen Staates. Der erste griechische König war ein Wittelsbacher, Bayerns Prinz Otto Friedrich Ludwig, der bei seinem Amtsantritt 1832 deutsche Architekten mitbrachten, die sich sogleich an die Planung und Bildung einer modernen Stadt machten. Und spätestens an diesem Punkt wird es heikel.

Denn die Griechenfreundschaft der Philhellenen ist ein Mythos, hinter dem sich nichts anderes als eine latente Griechenlandverachtung verbirgt. Die Philhellenen idealisierten das antike Griechenland und statteten die Fantasielandschaft mit allerlei Superlativen aus, mit „stiller Einfalt“ und „edler Größe“ (Winckelmann). Friedrich Hölderlin sah in der antiken Gesellschaft sogar „der neuen Gottheit neues Reich“. Goethe stellte sein „Auch ich in Arkadien“ als Motto vor seine „Italienische Reise“. Aber als er die Möglichkeit hatte, von Italien nach Griechenland überzusetzen und dem realen Arkadien auf dem Peloponnes einen Besuch abzustatten, scheute er davor zurück. Er ahnte, dass die Realität niemals seiner Fantasie standhalten würde.

Die Hellenenfreunde, die tatsächlich nach Griechenland reisten, waren tief enttäuscht, geradezu entsetzt. In dem soeben erschienenen Sammelband „Meilensteine deutsch-griechischer Beziehungen“ (zu beziehen über www.griechische-kultur.de) beschreibt der Byzantinist Hans Eideneier die „aktive Abneigung“, in die die enttäuschte Liebe umschlug: „Neben dem unsäglichen Schmutz und der bedrückenden Armut trafen sie auf Einwohner, die sich Römer – Romaioi nannten und so etwas sein mussten wie die Roma in Rumänien ...“ In ihre Heimat zurückgekehrt, berichteten sie „von hinterhältigen Gaunern, die (...) sich in Arkadien festgesetzt“ hätten.

Einer, der dieser Enttäuschung Ausdruck verlieh, war der Orientalist Jakob Philipp Fallmerayer, dessen Thesen über Generationen ein negatives Griechenland-Image prägten. Nach Fallmerayer war der antike Hellene im Mittelalter ausgestorben, während der heutige Grieche von Albanern und Slawen abstamme. Auch aus seiner Aversion gegen die „bleierne Orthodoxie von Byzanz“ machte er kein Hehl. Bis heute gehört es zum Standardrepertoire des gebildeten Deutschen, sich über die Diskrepanz zwischen idealisierter Antike und neugriechischer Lebenswirklichkeit lustig zu machen. Die plötzlich aufschießende Häme der deutschen Berichterstattung während der Finanzkrise kam also nicht aus dem Nichts. Sie war immer schon da.

Eine andere deutsche Tradition, die seit den Tagen des griechischen Unabhängigkeitskrieges existiert: Waffen nach Griechenland zu liefern. Die Aufforderung der CDU-Abgeordneten, Inseln zu verkaufen, war auch deshalb so schamlos, weil einige Wochen zuvor Außenminister Westerwelle in Athen auf subtile Weise die griechische Regierung dazu aufgefordert hatte, doch eine auf Eis liegende Eurofighter-Bestellung voranzubringen. Nach einem kürzlich erschienenen Report des Friedensforschungsinstitutes Sipri hat sich der Rüstungsexport der Deutschen in kurzer Zeit verdoppelt. Fast ein Drittel der deutschen Waffen gehen an zwei Länder, in die Türkei und nach Griechenland: Leopard-2-Panzer, U-Boote, Kampfflugzeuge, die in der Exportauflistung des Auswärtigen Amtes vornehm „andere technische Erzeugnisse“ genannt werden.

Auch mit einer anderen deutsch-griechischen Beziehung ging das Auswärtige Amt lange Zeit beschönigend um: mit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges von 1941 bis 44, deren Konsequenzen weiten Teilen der deutschen Bevölkerung noch immer nicht bekannt sind. Eine Million Griechen kamen während des Krieges ums Leben, allein 56 000 haben Wehrmacht und SS ermordet. Das Land verlor 7,2 Prozent seiner Bevölkerung und liegt damit in der Statistik über die Menschenverluste im Zweiten Weltkrieg an vierter Stelle. Zu trauriger Berühmtheit brachten es das Massaker von Kalavryta und das von Distomo, das Angehörige der 4. SS-Polizei-Panzergrenadier-Division am 10. Juni 1944 verübten. 218 Einwohner wurden getötet. Man hängte Menschen an ihren Gedärmen auf, schnitt Frauen die Brüste ab und die Embryos aus den Leibern. Keiner der Beteiligten wurde dafür jemals zur Rechenschaft gezogen.

Nach Intervention des Auswärtigen Amtes wurde ein Richter des Landgerichts Konstanz 1953 an einer Reise zur Zeugenvernehmung gehindert, wegen Verjährung wurde ein Verfahren zu Distomo und anderen Massakern 1972 eingestellt. 1997 schließlich verurteilte ein griechisches Landgericht die Bundesrepublik zu einer Entschädigungszahlung von 28,5 Millionen Euro. Man legte Revision ein, die vom höchsten griechischen Gericht 2000 abgewiesen wurde. Erst als die Zwangsvollstreckung des Goethe-Instituts bevorstand, reagierte Berlin: mit der Drohung, das Verfahren könne eine „Belastung der Beziehungen“ bewirken. Außerdem sah man die „universellen Grundsätze der Staatenimmunität“ gefährdet. Der Beschluss wurde gekippt.

Was Berlin fürchtet, ist klar: die Folgen eines Präzendenzfalls. Auch wenn die Weigerung, zu zahlen, juristisch wasserdicht sein mag, ethisch bleibt sie fragwürdig. Genauso wie der Trick, mit dem sich die Bundesrepublik alle Reparationszahlungen vom Hals geschafft hat, die das Londoner Schuldenabkommen von 1953 auf den Zeitpunkt verschoben hatte, an dem das wiedervereinigte Deutschland einen Friedensvertrag unterschreiben würde. Als sich Deutschland wiedervereinigte, nannte man den Vertrag nicht Friedens-, sondern Zwei-plus-Vier-Vertrag. Zahlungen fielen keine an.

Der in Griechenland lehrende Historiker Hagen Fleischer hat in einem Vortrag im März in der Griechischen Kulturstiftung in Berlin nachgezeichnet, wie das Auswärtige Amt über Jahrzehnte systematisch am Vergessen „gewisser Kriegsereignisse“ gearbeitet hat. Ausdrücklich war man über den griechischen Bürgerkrieg von 1945 bis 49 erleichtert, weil er die Verbrechen in der Besatzungszeit in den Hintergrund rückte. Alle Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg sollten „liquidiert“ werden, wie es in internen Papieren hieß. Als Druckmittel setzte man die eigene Wirtschaftsmacht ein, wie etwa im Fall des ehemaligen Leiters der mazedonischen Militärverwaltung, Max Merten. Der war 1957 in Griechenland verhaftet worden. Das Auswärtige Amt verlangte die sofortige Freilassung, sonst sei „es notwendig (…) Repressalien vorzunehmen“. Griechenland weigerte sich, nicht lange allerdings. Ein Jahr später reiste der griechische Ministerpräsident Konstantinos Karamanlis nach Bonn und erhielt eine Anleihe von 200 Millionen Mark – unter der Voraussetzung, dass Griechenland die Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher einstellte. Kurze Zeit später wurde Merten freigelassen.

Erst Mitte der achtziger Jahre ändert sich die Doktrin. Der Verbrechen und Massaker wird beim Athenbesuch Richard von Weizsäckers 1985 immerhin gedacht. Das Wort Schuld aber fällt nicht, auch nicht die Bitte um Entschuldigung, weder als Roman Herzog den griechischen Staatspräsidenten Konstantinos Stefanopoulos 1996 empfängt (zufällig am Jahrestag des Massakers von Distomo) noch als Johannes Rau 2000 während einer Griechenlandreise Kalavryta besucht, wo am 13. Dezember 1943 mindestens 700 Griechen von Mitgliedern der 117. Jägerdivision erschossen worden waren.

Dabei geht es nicht um Reparationszahlungen. Es geht um fehlende symbolische Gesten. Um aus dem Mythos von der „deutsch-griechischen Freundschaft“ Wirklichkeit werden zu lassen, bräuchte es nicht viel. Bundespräsident Wulff müsste sich bloß in den Flieger nach Athen setzen. Im Gepäck weder einen neuen Kredit noch Werbebroschüren für Kampfjets, sondern nur die seit Jahrzehnten erhoffte Rede mit den richtigen, den entscheidenden Worten.

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