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Politik: Die Kür des jungen Bürgers - ein Plädoyer gegen die Freiheitsberaubung - für eine radikale Bundeswehrreform

Es ist Unrecht! Es ist ein Unrecht, junge Menschen - ohne sicherheitspolitische Notwendigkeit - zu einem Zwangsdienst zu verpflichten.

Es ist Unrecht! Es ist ein Unrecht, junge Menschen - ohne sicherheitspolitische Notwendigkeit - zu einem Zwangsdienst zu verpflichten. Es ist ein Unrecht, Menschen, zumal, wenn sie jung und im Aufbruch sind, ihrer Grund- und Freiheitsrechte zu berauben, sie aus ihrer Berufs- und Lebenswelt herauszureißen, sie in ihren Hoffnungen und Zukunftsperspektiven einzuschränken, möglicherweise sogar ihren Lebensweg grundlegend zu verändern.

Wer dieser Tage die Diskussion um die Reform der Bundeswehr verfolgt, kann vielfältige Argumente für die Fortfführung der (bislang zehnmonatigen) Wehrpflicht und für die Beibehaltung einer möglichst großen (bislang 320 000 Soldaten umfassenden) Bundeswehr hören. Demokratie und Wehrpflicht, heißt es zum Beispiel, seien die Kehrseiten ein und derselben Medaille: als ob nicht gerade große Demokratien wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich die Wehrpflicht ausgesetzt hätten. Eine Wehrpflichtarmee lasse sich nicht so leicht missbrauchen wie eine Berufsstreitmacht: als ob nicht gerade die großen verbrecherischen Kriege der Neuzeit mit Wehrpflichtigen geführt worden wären.

Zu den perfidesten Argumenten aber gehören die vorgeblich sozialen: Eine personalstarke Bundeswehr müsse beibehalten werden, damit Arbeitsplätze nicht gefährdet würden - an den Standorten, in der Verwaltung, in der Rüstungsindustrie. Oder: Würde die Wehrpflicht ausgesetzt und entfiele der Zivildienst, würden ganze Bereiche des Sozialwesens zusammenbrechen. Ist es falsch, bei solchen Argumenten an Unrecht zu Lasten der Wehr- und Zivildienstleistenden, an eine Variante moderner Sklaverei zu denken? Sind Grundrechte der Berufswahl- und Arbeitsplatzfreiheit junger Wehrpflichtiger geringer zu achten als die Interessen der Rüstungsindustrie? Darf die Wehrpflicht fortgeführt werden, damit in ihrem Gefolge Zivildienstleistende als billige Arbeitskräfte missbraucht werden? Warum sagt niemand den Betroffenen, die an den Standorten oder in der Rüstungsindustrie um Arbeitsplätze bangen oder die als Kranke und Bedürftige auf Hilfe angewiesen sind, dass es Alternativen gibt?

Umstrukturierung der Bundeswehr und die Aussetzung der Wehrpflicht bringen zweifelsohne sozialpolitische Probleme mit sich. Andererseits bergen sie gesellschaftliche Chancen, die es konzeptionell zu nutzen gilt. Voraussetzung ist eine systematische Konversionspolitik auf Bundesebene, verstanden als gewollter Prozess der zivilen Umgestaltung. Entsprechende Aufgaben werden bislang weitgehend den Ländern und Kommunen überlassen. Wie ein politisches Konversionsmanagement beim Bund aussehen könnte, lässt sich dagegen an den Erfahrungen der USA ablesen: Schon 1961 wurde beim US-Verteidigungsministerium das "Defence Economic Adjustment Program" initiiert. Sein Hauptzweck besteht darin, Kommunen zu helfen, jene Probleme zu bewältigen, die durch eine veränderte Sicherheitspolitik entstehen. Zivile Umwandlung in den USA gilt heute nur dann als erfolgreich, wenn an einem Standort nach dem militärischen Abzug entsprechend viele neue zivile Arbeitsplätze entstanden sind.

Zu den Folgen einer Aussetzung der Wehrpflicht gehört ferner die Aufhebung des Zivildienstes mit erheblichen Wirkungen auf das Gesundheitswesen und andere sozialpolitische Bereiche. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung lässt sich die Arbeitsleistung der Zivildienstleistenden durchaus durch tariflich bezahlte Leistungen ersetzen, ohne dass das Sozialwesen teurer wird: wenn nämlich jene Finanzmittel, die bislang für Sozialleistungen via Zivildienst durch den Staat ausgegeben werden, auch weiterhin bereitstehen. Eine weitere Alternative zum Zivildienst-Netz bildet die Schaffung eines Anreizsystems für die freiwillige Übernahme von öffentlichen Aufgaben: Prämierung im Sinne von Berufsfindung, Ausbildungsvergütung, Qualifikationsanrechnung. Statt der zwangsweisen Einberufung sollten junge Menschen, auch Frauen, motiviert werden, für eine bestimmte Zeit in einem sozialen Dienst tätig zu werden. Ein solches freiwilliges "Dienstjahr" sollte bei Bundeswehr, zivilem Friedens- oder Entwicklungsdienst, Feuerwehr, Altenpflege, Polizei, Katastrophen- oder Umweltschutz sowie internationalen Organisationen möglich sein. Männer und Frauen sind dabei gleichgestellt - auch in den Streitkräften, uneingeschränkt.

Die Pflicht könnte so durchaus zur Kür werden - zum Vorteil aller Betroffenen. Unrecht, das erzwungen wird, bleibt dagegen Unrecht. Diese Erkenntnis ist nicht neu: Nach den Erfahrungen der deutschen Vergangenheit hat bereits der Parlamentarische Rat 1948/49 nur Grundrechte, keineswegs Grundpflichten in der Verfassung der Bundesrepublik verankert. Daran haben jene Verfassungnovellen von 1954 und 1956 nichts geändert, durch die die Aufstellung der Bundeswehr rechtlich ermöglicht wurde. In Artikel 87a Absatz 1 Satz 1 GG - einer Regelung der Zuständigkeit - wurde lediglich verdeutlicht, dass der Bund (nicht die Länder) "Streitkräfte zur Verteidigung" aufstellt. Artikel 12a Absatz 1 GG erklärte, dass Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden "können".

Die Wehrpflicht des Grundgesetzes besitzt also keinesfalls den Charakter einer Grundpflicht; sie ist eine Rechtspflicht, die erst durch die politischen Entscheidungsträger mit Leben gefüllt wird, aber auch unausgefüllt bleiben kann. Als Ausnahmeregelung von den im Grundgesetz verankerten individuellen Freiheitsrechten (insbes. der Berufs- und Arbeitsfreiheit, Artikel 12 Absatz 1 GG) muss sie sogar ungenutzt bleiben, wenn von ihrer wehrpolitisch begründbaren Rechtfertigung nicht mehr die Rede sein kann: wenn also Recht zu Unrecht wird. Das bekräftigte in einer Rede anlässlich des 40-jährigen Bestehens der Bundeswehr der vormalige Bundespräsident Herzog: "Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges ewiges Prinzip, sondern sie ist auch abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können ... Es ist vor allem die Landes- und Bündnisverteidigung und nicht die Beteiligung an internationalen Missionen, die die Beibehaltung der Wehrpflicht rechtfertigen."

Gerade die veränderte sicherheitspolitische Lage nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes macht aber erkennbar, dass die Staaten der Nato noch nie so wenig bedroht waren wie in der Gegenwart; dass ferner die Nato noch nie so unangefochten stark war wie heute; dass schließlich die Tendenz der Mitgliedstaaten von Nato, WEU und EU dahin geht, ihren Streitkräften immer weniger eine Funktion der Landesverteidigung als eine der Krisenintervention zuzusprechen.

Spätestens mit der veränderten wehrpolitischen Lage zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist auch die Begründung für die Wehrpflicht als unabdingbare "Ausnahme" von den im Grundgesetz verankerten Freiheitsrechten entfallen. Selbst wenn sich die Wehrpflicht seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes eine Zeit lang in einer Grauzone des "Noch-Verfassungsgemäßen" bewegen konnte, so ist doch in dem Maße, in dem sich die sicherheitspolitische Lagebeurteilung über ein Jahrzehnt hinweg Tag für Tag bestätigt hat, die Rechts- und Verfassungswidrigkeit ihrer Aufrechterhaltung immer deutlicher geworden. Bundestag und Regierung sind deshalb gut beraten, die Fortführung der Wehrpflicht in Deutschland möglichst rasch auszusetzen und die Vorschläge zur Neustrukturierung der Bundeswehr als Chance zur Diskussion eines Reformmodells auf der Basis einer Freiwilligenstreitkraft sowie eines Bundeskonversionsprogramms und eines "freiwilligen Jahres" zu nutzen.Der Verfasser ist Direktor des Instituts für

Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Dieter S. Lutz

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