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Aufräumarbeiten in London. Inzwischen haben sich die Krawalle in andere Städte Englands verlagert.

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Update

Die Lage in Großbritannien: Ruhe in London, Krawalle im Land

Die Brandstiftungen, Plünderungen und Straßenschlachten haben sich von London weg verlagert: In Birmingham kamen drei Männer ums Leben, die Polizei nahm zahlreiche Randalierer fest. Vielerorts bilden sich Bürgerwehren.

In London hat es in der Nacht zum Mittwoch 16 000 Polizisten gebraucht, um eine geradezu gespenstische Ruhe in der britischen britischen Hauptstadt herzustellen. Die Gewalt breitete sich dafür in andere Regionen aus. Sogar in Provinzstädtchen wie Hastings versuchten einige, per Facebook einen Krawall anzuzetteln. In den Einkaufsvierteln in Manchester, Salford, Birmingham herrschten Randale und Gewalt. In Nottingham wurden Brandbomben in eine Polizeiwache geworfen. Viele Geschäfte hatten schon am späten Nachmittag geschlossen. In Manchester hängte ein Ladenbesitzer einen Zettel an die Tür: „Wegen bevorstehenden Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung schließen wir heute früher.“

Der Polizeichef von Manchester, Garry Shewan, sprach von einem „außergewöhnlichem Ausmaß an Gewalt, wie ich es in meiner gesamten Laufbahn noch nicht gesehen habe“. 90 Prozent der Briten billigen nach den Exzessen der vergangenen fünf Nächte den Einsatz von Wasserwerfern, hat das Meinungsforschungsportal Yougov ermittelt. 77 Prozent würden sogar einen Einsatz der Armee begrüßen – nur mit dem Einsatz der Politiker sind sie mehrheitlich unzufrieden. 57 Prozent glauben, dass Premierminister David Cameron die Lage nicht im Griff hat.

Dafür bilden sich nun in vielen betroffenen Gebieten „Bürgerwehren“, vor allem unter untereinander stark vernetzten Einwanderergruppen. In Southall in Westlondon standen 700 Sikhs mit ihren Turbanen, bewaffnet mit Hockeyschlägern und rituellen Schwertern, vor ihrem Tempel in der Einkaufsstraße. „Die Polizei ist überarbeitet. Wir unterstützen sie. Warum sollen wir unsere Häuser, unsere Geschäfte und unsere Gotteshäuser nicht gegen diese Terroristen verteidigen“, sagte einer.

In London und anderen Städten haben unterdessen viele Bürger zu Besen gegriffen. Zum einen, um die Straßen nach den Krawallen aufzuräumen, aber auch als Symbol für ihren Widerstand gegen die Plünderer und Gewalttäter. Organisiert wurde die Besen-Brigade über den elektronischen Informationsdienst Twitter.

Nach Hunderten von Verhaftungen im ganzen Land – 700 allein in London – sind die Polizeizellen überfüllt. Schnellverfahren gegen Plünderer haben begonnen. Der erste in einem Londoner Magistratsgericht abgeurteilte Plünderer war ein 31-jähriger Hilfslehrer in einer Grundschule. Der zweite war ein Drogenhändler auf Bewährung. Der dritte ein 19-jähriger Student. In anderen Gerichten standen unter anderem ein 25-jähriger Gabelstaplerfahrer, ein junger Mann mit Hochschulabschluss und sogar ein angehender Rekrut der Armee vor dem Richter.

Premier Cameron hielt sich weiter nicht mit soziologischen Erklärungen auf und machte die Bandenkultur für die Krawalle verantwortlich. Cameron wurde oft wegen seiner Parole von der unter Labour „zerbrochenen Gesellschaft“ Großbritanniens kritisiert. Nun sagte er: „Es gibt Gruppen in unserer Gesellschaft, die nicht nur zerbrochen, sondern absolut krankhaft sind.“ Er bezog sich dabei auf das auf YouTube gezeigte Video von Plünderern, die sich scheinbar rührend um einen am Boden liegenden jungen Mann kümmern, nur um ihm dann etwas aus seinem Rucksack zu stehlen.

In Zeitungen und Blogs wird jetzt weniger über Arbeitslosigkeit und die Perspektivlosigkeit einer Generation von Jugendlichen debattiert, als über den Verlust von Schamschwellen und Respekt. Auch die BBC hat nach einer Flut von Zuschriften und Kritik aufgehört, die Plünderer und Randalierer hartnäckig als „Protestierer“ zu bezeichnen. Entsetzen löst vor allem aus, dass viele der Randalierer Kinder sind. Soziologen erklären Plünderungen dadurch, dass geltende Moralvorstellungen bei Krawallen aufgehoben würden. „Die Leute tun Dinge, die sie normalerweise nicht tun würden“, sagte der Soziologe Paul Bagguley von der Universität Leeds in der BBC. Junge Männer würden sich eher auf Konfrontationen mit der Polizei konzentrieren, Frauen und Kinder würden eher plündern.

Am Donnerstag wird Cameron bei einer Dringlichkeitssitzung des aus den Ferien zurückberufenen Unterhauses einen Bericht zur Lage abgeben. Auch Kürzungen der Polizeietats dürften dann noch einmal zur Sprache kommen. Hier hat Londons Tory-Bürgermeister Boris Johnson am Mittwoch kategorisch die Rücknahme der Einsparungen für die Londoner Polizei gefordert. (mit Tsp)

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