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Politik: Die Lager formieren sich

In der ukrainischen Hauptstadt haben sich Tausende Anhänger von Regierung und Opposition versammelt

Eisig peitschen die Schneeböen über die Menschenmassen, die am Kiewer Unabhängigkeitsplatz in der Kälte ausharren. Die ausgelassene Volksfeststimmung, die die ukrainische Hauptstadt seit Sonntagabend beseelt hatte, scheint vorbei. Ernst und gefasst sind die Gesichter der Menschen, die unter dicken Wollmützen und Kapuzen den Rednern auf der Tribüne lauschen. „Wir sind viele – ihr schlagt uns nicht“, skandieren die Demonstranten.

Ob es zu gewaltätigen Auseinandersetzungen kommen werde, wisse er auch nicht, sagt ein Aktivist mit dem gelben Armband der oppositionellen Jugendbewegung „Pora“: „Ich hoffe nicht. Doch wir werden Viktor Juschtschenko zum Sieg verhelfen.“

Nur kurz schien sich nach der verfälschten Präsidentenkür vom vergangenen Wochenende die Lage in Kiew am Mittwochmorgen zu entspannen. Ohne Zwischenfälle war in der Nacht zuvor die Belagerung des Parlaments abgelaufen. Die Demonstranten hatten von dem Versuch der Erstürmung der Volksvertretung abgesehen, das immense Aufgebot von Sicherheitskräften hatte nicht eingegriffen.

Doch dann erwiesen sich die Fronten als ebenso verhärtet wie zuvor. Der Massenprotest der Opposition sei eine „politische Farce“, die „unüberschaubare Konsequenzen“ nach sich ziehen könne, poltert Staatschef Kutschma, der am Abend zuvor beim Besuch des Championsleague-Spiels von Dynamo Kiew mit einem gellenden Pfeifkonzert im Stadion der Republik begrüßt worden war: „Wir werden nicht als Erste Gewalt anwenden, aber Recht und Ordnung aufrechterhalten.“ Und auch Auszählsieger Janukowitsch will nicht nachgeben: Er werde sich nur rechtmäßigen Wahlentscheidungen beugen, sagt er. Es werde keine Verhandlungen mit dem Präsidenten und dessen Kandidaten geben, versichert der Oppositionsabgeordnete Mykola Tomenko den Hunderttausenden, die sich erneut ins Zentrum von Kiew aufgemacht haben: „Solche Gespräche sind nur Störmanöver der Macht.“

Berichte von Truppenbewegungen in allen Teilen des Landes werden auf oppositionellen Websites verbreitet. Während Verteidigungsminister Alexander Kuzmuk einen geplanten Einsatz dementiert, hat sich in der Hauptstadt die Zahl der aus Donezk angekarrten Bergleute zur Unterstützung des Premiers erheblich vermehrt: Mit blau-weißen Flaggen bilden die jungen Männer am späten Nachmittag einen Kordon um das Gebäude der Zentralen Wahlkommission.

Hart zerrt der Wind an der eingerissenen Nationalfahne am Flaggenmast des Unabhängigkeitsplatzes. Dunkel schlägt die Glocke vom Turm des Gewerkschaftshauses, als der von dem Box-Champion Wladimir Klitschko begleitete Juschtschenko unter tosendem Beifall das Wort ergreift. Sie sollten sich nicht provozieren lassen, bittet er und verliest eine lange Liste von Solidaritätsbotschaften aus dem In- und Ausland: „Europa schaut auf uns. Wir sind nicht allein: Wir schaffen eine neue gerechte Ukraine.“

Thomas Roser[Kiew]

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