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Politik: Die leise Rückkehr des Politischen

SCHRÖDER IM BUNDESTAG

Von Peter Siebenmorgen

Wie vom Eise befreit, dieser Eindruck drängt sich wenige Tage nach seinem Verzicht auf den Parteivorsitz auf, agiert Gerhard Schröder als Bundeskanzler. Die neue Aufgabenteilung mit Franz Müntefering scheint ihm persönlich gut zu tun. Im Bundestag war das gestern zu sehen, zu hören, zu spüren, als er zum Jahrestag seiner Agenda 2010 sprach.

Dabei zählten Regierungserklärungen bisher nicht zu seinen Stärken. Was damit anfängt, dass Schröder in den früheren Morgenstunden irgendwie die Zunge im Wege zu stehen scheint; selbst der schönste Text, vom Kanzler als sich verhaspelnden Redner dargeboten, wird zur Qual. Das Hauptproblem seiner Parlamentsreden war allerdings nie eines, dem logopädisch beizukommen wäre. Sehr viel tiefer lag das Übel: Es ist, wie Uwe Pörksen, ein kluger Rhetorikprofessor, herausgearbeitet hat, Schröders Neigung, bei der Darlegung seiner Politik das Politische verschwinden zu lassen. Was zu tun ist, kommt nur im Gewand des Sachzwangs daher. Wo Politik aber nicht mehr in der Kunst besteht, sich bewusst, reflektierend und abwägend zwischen Alternativen zu entscheiden, nimmt bloße Technokratie den Platz ein, der eigentlich dem Politischen gebührt.

So betrachtet, hat Schröder gestern seine beste Regierungserklärung abgegeben. Die Erleichterung durch seinen halben Ämterverzicht ist dabei nur die halbe Erklärung. Offenbar bahnt sich eine weitere Veränderung an: Jene Agenda 2010, die vor einem Jahr den Leuten auf den Tisch geknallt wurde – Vogel, friss oder stirb –, stellt sich nun ganz anders vor. Eben als Politik. Die Ziele, die der Regierungschef beschreibt, folgen nicht mehr nur der Abwägung von Kosten und Nutzen. Nach einem Jahr Erfahrung klingt die Frage zudem in einem anderen Resonanzraum: In welcher Gesellschaft wollen wir in Zukunft leben? Wie Wilhelm Röpke, einer der Väter der „alten“ sozialen Marktwirtschaft, fragt diese Regierungserklärung danach, welche Werte „jenseits von Angebot und Nachfrage“ gelten sollen.

Man muss deshalb die Agenda 2010 weder als vollständig noch als richtig feiern. Die Art der Auseinandersetzung um den eingeschlagenen Kurs beginnt sich aber allmählich zu verändern. Zunächst in der Binnenwirklichkeit der SPD. Schön finden sie dort den Um-Ab-Bau des Sozialstaates längst noch nicht. Aber die Zweifler werden wieder erreichbar, wenn die Führung konsequent dabei bleibt, politisch zu argumentieren. Beim Parteitag deutete sich das bereits an, im Bundestag hat sich das nun fortgesetzt. Weder hier noch dort war eine neue Linkspartei auch nur als Gespenst zugegen.

Auch für die Opposition hat Schröders „politische“ Politik Folgen. Einer nackten, seelenlosen Agenda 2010 pur, wie der Kanzler sie bis vor kurzem noch dargeboten hat, konnte man erfolgsträchtig mit einem „Masterplan“ oder einer ordnungspolitisch entkernten „neuen“ sozialen Marktwirtschaft zu Leibe rücken. Wenn aber die Regierung damit anfängt, sich politisch zu formieren, Zukunftsvorstellungen zu formulieren und den widerstreitenden Konzepten gar einen Kulturkampf um Art und Charakter der Bundesrepublik und ihrer Gesellschaft zuzuschreiben, erwischt sie die Opposition auf dem falschen Fuß. Wollen Union und FDP ihren anhaltenden demoskopischen Abstand zur Regierungskoalition in einen Wahlsieg 2006 retten, werden auch sie sich anders, sie werden sich politisch positionieren müssen. Und dabei sollten sie schleunigst nach einem Röpke der „neuen“ sozialen Marktwirtschaft Ausschau halten.

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