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Politik: „Die Leute reagieren teilweise zynisch“

Der israelische Psychologe Dan Bar-On über das Erinnern an Auschwitz – und den Wandel der Deutschen

Vor 60 Jahren wurde Auschwitz befreit: Sie arbeiten seit vielen Jahren mit Nachkommen deutscher Täter und Nachkommen jüdischer Opfer. Was ist Ihre wichtigste Lehre für diesen Tag?

Von der Politik wird der 27. Januar inzwischen als AuschwitzGedenktag begangen. Aber in meinen Augen ist noch nicht klar, ob sich dieses Gedenken auch im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung verankern wird. Wir haben untersucht, was die heutige Jugend noch von der Nazizeit weiß. Fast 50 Prozent der jungen Deutschen hatten keine Ahnung, was ihre Großeltern in dieser Zeit getan haben. Elf Prozent wussten, dass einer ihrer Großeltern Nazi war.

Aber es gibt doch inzwischen viel mehr Informationen in der Schule, aus Büchern oder im Fernsehen?

Natürlich wissen Jugendliche heute relativ viel über den Nationalsozialismus. Aber lebendig wird Vergangenheit erst durch Erzählungen aus der eigenen Familie. Was aber passiert, wenn deutsche Jugendliche nach Hause kommen und nachfragen, was in ihrer Verwandtschaft abgelaufen ist? Hier gibt es noch sehr viel Abwehr und Tabus. Man will in den Familien über die Naziverbrechen nicht reden. Das ist bis heute so.

Diese Sprachlosigkeit in den Familien läuft also konträr zum öffentlichen Erinnern. Die UN haben zum ersten Mal der Befreiung von Auschwitz gedacht, in Paris wurde ein Holocaust-Mahnmal eröffnet, in Berlin wird eins gebaut. Wie interpretieren Sie das?

Auf der offiziellen Ebene wird immer mehr verstanden, dass die Shoah nicht nur eine jüdische Katastrophe war, sondern eine Weltkatastrophe. Doch dieses Gedenken geht sehr stark von oben nach unten. Denn die Leute fühlen sich persönlich immer weniger angesprochen – und reagieren teilweise auch zynisch.

Ist der Umgang mit Auschwitz in Deutschland mittlerweile zynisch?

Ich kenne Jugendliche, die sagen, das hat nichts mehr mit uns zu tun, lasst uns damit in Ruhe. Ich kenne aber auch Jugendliche, die sich sehr tief damit auseinander setzen. Sie sind eine Minderheit, aber die ist sehr wichtig für Deutschland.

Was sagen Sie Jugendlichen, die mit Auschwitz nichts mehr zu tun haben wollen?

Zunächst: In einem gewissen Sinne kann ich das verstehen. Dann aber sage ich ihnen, dass ich glaube, Auschwitz hat mit uns allen zu tun. Die Fähigkeit, Gutes zu tun, aber auch die Fähigkeit, Leute zu morden – beides ist in nahezu allen Menschen angelegt. Und es gibt keinen absoluten Schutz dagegen, dass die Fähigkeit des Mordens in einer Situation auch in uns hochkommen kann.

Wie meinen Sie das?

Denken Sie beispielsweise an Bosnien. In dem Moment, wo sich eine schlimme Krise entwickelte, schlugen plötzlich Nachbarn aufeinander ein, die jahrelang friedlich nebeneinander gelebt hatten. Das kann man nur verstehen, wenn man begreift, dass die Fähigkeit, zum Täter zu werden, in uns allen latent vorhanden ist. Es gibt keinen absoluten Schutz dagegen. Darum müssen wir alle dafür sorgen, dass solche Krisensituationen nach Möglichkeit gar nicht erst entstehen. Das ist unsere Verantwortung.

Wie brisant sind dann die Vorgänge im sächsischen Landtag. Ist das ein Versuch, diesen zivilisatorischen Konsens aufzukündigen?

Diese Neonazis wollen provozieren und Aufmerksamkeit erregen. In meinen Augen ist es vor allem wichtig, zu verstehen, warum sich die Neonazis in Ostdeutschland so stark entwickelt haben? Was wurde vernachlässigt? Was fehlt in der Erziehung? Und was muss man tun, um das Problem zu verringern?

Das Gespräch führte Martin Gehlen.

Dan Bar-On ist Sohn deutscher Juden und Professor für Psychologie an der Universität Beer Sheva. „Erzähl dein Leben!“ heißt sein neuestes Buch über seine Arbeit mit Tätern und Opfern.

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