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2012

© picture alliance / ZB

Politik: Die Liebe zur Zeitverschwendung

Die Fußball-Europameisterschaft. Deutschland fiebert ihr jetzt schon entgegen. Das war nicht immer der Fall.

Angela Merkel hat gerade alle Hände voll damit zu tun, Griechenland, Spanien und den Euro zu retten. Ist es da zu viel verlangt, wenn sich auch Lukas Podolski, Mesut Özil und Bastian Schweinsteiger ein wenig verdient machen um Europa? Und sei es nur, dass sie ein paar Wochen die Füße stillhalten?

In fünf Wochen beginnt die Fußball-Europameisterschaft, in Polen und, jetzt wird es problematisch, in der Ukraine. Jenem Land am östlichen Rand Europas, das sich wenig um Menschenrechte schert und seine schwer kranke frühere Regierungschefin seit Monaten einkerkert. Bundespräsident Joachim Gauck hat darauf schon mal einen Staatsbesuch abgesagt. Die Politik kommt nicht weiter, so dass es jetzt die Diplomatie auf der grünen Wiese richten soll. Noch rechnet niemand ernsthaft mit einem EM-Boykott. Aber ein bisschen drohen kann ja nicht schaden. Angela Merkel, seit Jahren ein gern gesehener Gast bei großen Spielen der deutschen Nationalmannschaft, lässt viel sagend ausrichten, sie habe für die Europameisterschaft noch keinen Besuch geplant. Und die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth schiebt zur Unterstützung der Kanzlerin gegen jede ideologische Grenzen hinterher: „Die Regierenden in der Ukraine sind auf dem Holzweg, wenn sie glauben, sie könnten sich bei der EM im Licht der internationalen Öffentlichkeit sonnen, während sie wie im Fall von Julia Timoschenko die Menschen- und Bürgerrechte mit Füßen treten.“

Man sieht schon, die Europameisterschaft der Fußballspieler ist bedeutsam. Einen so hohen Stellenwert haben ihr die Deutschen jedoch nicht immer zugemessen. Vor einem halben Jahrhundert, als alles anfing und die Deutungshoheit noch nicht im Bundestag zu Hause war, sondern bei Männern wie Josef Herberger, genannt Sepp und von Freunden auch Seppl. Für Herberger war die erste Europameisterschaft 1960 in Frankreich vor allem eines: „Zeitverschwendung! Reine Zeitverschwendung!“

Die EM mag im dritten Jahrtausend die drittgrößte Sportveranstaltung der Welt sein. Herberger und seine Kollegen in Italien oder England hielten das Turnier für ein zu vernachlässigendes Vergnügen. „Zwischen zwei Weltmeisterschaften ist der Neuaufbau einer starken Nationalmannschaft die erste Aufgabe“, notierte Herberger in seinem berühmten Tagebuch. Und: „Ein Europaturnier stört.“

Die Geschichte der Europameisterschaft ist auch eine Geschichte der Deutschen und deren gesellschaftlicher wie sportlicher Befindlichkeiten. Dazu gehören die selbst gewählte Isolation und der Kalte Krieg. Aber auch die Fortsetzung der Entspannungspolitik mit fußballerischen Mitteln, die Integration von Migranten und die Diskussion über die Vereinbarkeit von Großveranstaltungen mit politischer Verantwortung. Und über allem steht die nicht nur in fußballaffinen Kreisen unumstrittene Erkenntnis: Eine Europameisterschaft ist so ziemlich alles, aber bestimmt keine Zeitverschwendung.

Der Weg dorthin war lang und kurios, in Deutschland wie in Europa. Weil das allgemeine Interesse an der ersten EM im Jahr 1960 sehr übersichtlich war, dehnte der europäische Dachverband Uefa die Anmeldefrist noch ein paar Monate aus, bis sich endlich 17 willige Nationen gefunden hatten. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) sprach abfällig von einer „europäischen Rumpfmeisterschaft“.

Der erste Eklat ließ nicht lange auf sich warten, und er hätte das junge Turnier beinahe schon vor der Finalrunde in Frankreich ruiniert. Im Viertelfinale, als das Los die Sowjetunion und Spanien zusammenführte. Keine gute Idee, befand Generalissimo Francisco Franco, der als faschistischer Diktator Spanien vorstand und den Sowjets nicht vergessen hat, dass sie ein Vierteljahrhundert zuvor im Bürgerkrieg die unterlegenen Republikaner unterstützt hatten. Die spanischen Spieler saßen schon auf dem Madrider Flughafen Barajas und warteten auf den Abflug zum Spiel nach Moskau, da marschierte ein Trupp Soldaten auf und befahl den sofortigen Rückzug.

Francos Rückzugsgefecht fand auch in Deutschland Beachtung, vorwiegend im östlichen Teil. Sportlich war die EM für die DDR schon im Achtelfinale nach zwei Niederlagen gegen Portugal beendet. In der Auseinandersetzung der Weltanschauungen aber fühlte sich das sozialistische Deutschland auf der Seite der Sieger. Die Ost-Berliner „Fußball-Woche“ kommentierte: „Diese Sabotage der Olympischen Idee durch das faschistische Spanien wird den Fußballsportlern in aller Welt mit aller Offenheit zeigen, wo die ewigen Feinde der friedlichen Entwicklung stecken.“ Und: „Dass sie sich zu solch ausgesprochen dummen Entschlüssen gegen den Willen der Völker entschließen, wird sie eines Tages restlos vereinsamen vor der Sportwelt, wird sie zu Eremiten machen, die abseits stehen, weil sie weder die Regeln des Spiels und der Fairness noch der Vernunft kennen.“

Den Sowjets bescherte der spanische Verzicht den kampflosen Einzug in die Endrunde nach Frankreich und damit die heute schwer vorstellbare Möglichkeit, mit gerade vier Spielen inklusive Qualifikation die Europameister zu werden.

Vier Jahre später wollten immerhin schon 29 der seinerzeit 33 Uefa-Mitglieder dabei sein. Es fehlten nur Zypern, Finnland, Schottland und, richtig, Deutschland, das immer noch vom störrischen Herberger trainiert wurde. Nach der Vorrundenauslosung zogen sich auch noch die Griechen zurück, weil sie keinesfalls gegen die ungeliebten Nachbarn Albanien spielen wollten. Die Dänen erfreuten sich am später typisch deutsch genannten Losglück und erreichten mit Siegen über Malta, Albanien und Luxemburg die Endrunde, die Uefa hatte sie aus schwer nachvollziehbaren Gründen an die vormaligen Boykotteure aus Spanien vergeben. Im Endspiel von Madrid kam es mit vierjähriger Verspätung doch noch zum Duell der ideologischen Feinde. Spanien siegte 2:1 gegen die Sowjetunion.

Die EM hatte sich etabliert im internationalen Fußballkalender. Weil der greise Herberger seinen Rücktritt eingereicht hatte und sein Nachfolger Helmut Schön dem europäischen Gedanken sehr viel aufgeschlossener war, durften 1968 auch die Deutschen mitmachen. Ein Sieg im letzten Qualifikationsspiel in Albanien hätte ihnen zum Einzug in die Endrunde gereicht. Doch auf dem Stolperacker von Tirana fiel kein Tor, und Deutschland verpasste zum ersten und bisher einzigen Mal die Qualifikation für eine Welt- oder Europameisterschaft. Bis heute ist Tirana für den deutschen Fußball, was die Schweinebucht für die US-Politik ist.

„Wir wussten, dass uns der Tag von Tirana ein Leben lang verfolgen würde. Und völlig zu Recht. Es war eine Katastrophe“, sagt Günter Netzer, der sich auf dem Acker vergeblich gemüht hatte, das deutsche Spiel zu ordnen. Bei der Rückkehr nach Frankfurt stand zum Empfang nur das Flughafenpersonal bereit, und die Spieler mussten sich einiges anhören. Die „Bild“-Zeitung forderte: „Lasst doch mal den Merkel ran.“ Max Merkel, Trainer des Deutschen Meisters 1. FC Nürnberg und späterer „Bild“-Kolumnist, kam dann doch nicht zum Zug. Ein paar Jahre später hatte das Blatt mehr Erfolg mit der Platzierung eines Einfluss-Agenten an der Spitze der Nationalelf.

Statt der Deutschen fuhren die Jugoslawen 1968 zur Endrunde nach Rom. Das heißt: Ein Deutscher war schon dabei, und er spielte eine entscheidende Rolle. Das war im Halbfinale, als sich Italien und die Sowjetunion 120 Minuten lang torlos durch die Hitze quälten. Da das Elfmeterschießen noch nicht erfunden und ein Wiederholungsspiel nur für das Finale vorgesehen war, musste der Münzwurf entscheiden. Eine 10-Franc-Münze spielte Schicksal, und geworfen wurde sie von einem Mannheimer, dem Schiedsrichter Kurt Tschenscher. Die Italiener kamen so ins Finale gegen Jugoslawien und siegten 2:0 im Wiederholungsspiel.

In der Folgezeit waren die EM-Turniere häufig deutsche Angelegenheiten. Die Europameistermannschaft von 1972 etwa gilt bis heute als die beste, die dieses Land je hatte. Fantasievoll, schön und kreativ. Mit Günter Netzer, der beim legendären Viertelfinalsieg in Wembley gegen England aus der Tiefe des Raumes kam. Mit den Münchnern Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Uli Hoeneß und Paul Breitner, deren berauschender Stil auf dem Platz als Fortsetzung der Politik Willy Brandts auf dem Rasen gepriesen wurde – obwohl die Interpreten des deutschen Fußballwunders fast allesamt stramme Christdemokraten und -soziale waren. Ihnen kam es auch aus ideologischer Sicht zupass, dass es im Finale von Brüssel einen mit zauberhafter Leichtigkeit herausgespielten 3:0-Sieg über die Sowjetunion gab. Ein Da Capo dieses ersten EM-Triumphes vier Jahre später in Jugoslawien scheiterte an Uli Hoeneß’ sagenumwobenem Schuss in den Belgrader Abendhimmel im Elfmeterschießen gegen die Tschechoslowakei. Es war dies das erste Entscheidungsschießen in der Geschichte des Fußballs. Der mächtige DFB hatte es durchgesetzt, gegen den Widerstand der Tschechoslowaken, die ein Wiederholungsspiel favorisierten.

1980 in Italien, die Uefa hat aus der Viererendrunde ein Turnier mit acht Mannschaften gemacht, schoss der Hamburger Horst Hrubesch beide Tore zum 2:1-Finalsieg über Belgien. Hrubesch war das Ebenbild eines blonden deutschen Hünen, er schrieb später einen Bestseller über sein Hobby: „Dorschangeln vom Boot und an den Küsten“. Als Bundestrainer regierte der gemütliche Josef Derwall, der sich Reportern beim Bier gern mit der Bemerkung vorstellte: „Prost, ich bin der Jupp!“

Doch die Zeiten die Gemütlichkeit, sie gingen ihrem Ende entgegen. Vier Jahre später nutzte Franz Beckenbauer den deutschen Vorrunden-K.o. bei der EM in Frankreich mit Unterstützung der „Bild“-Zeitung zum Putsch gegen Derwall. Unter dem Teamchef und „Bild“-Kolumnisten Beckenbauer scheiterten die Deutschen bei der Heim-EM 1988 im Halbfinale gegen den späteren Europameister Niederlande. Beckenbauer machte sich bei den Holländern unsterblich, als er nach dem Spiel zu ihnen in den Mannschaftsbus stieg. Er lächelte und sagte, es falle ihm schwer, „aber ich finde, Holland hat verdient gewonnen. Viel Glück fürs Finale!“ Nach einem Moment der Stille brach Applaus los. Beckenbauers Auftritt war vielleicht der Anfang des deutschen Imagewandels, wie ihn die Welt 18 Jahre später in den Wochen des Sommermärchens von 2006 bestaunen konnte.

Auch diese Europameisterschaft zeitigte politische Begleiterscheinungen, denn der DFB klammerte West-Berlin als Spielort aus. Noch bei der Weltmeisterschaft 1974 hatten die Deutschen die Halbstadt inmitten der DDR gegen den Widerstand des Ostblocks als WM-Schauplatz durchgesetzt. In Europa aber herrschten andere Mehrheitsverhältnisse, und der DFB stand vor der Alternative: entweder Berlin-Versteher oder EM-Ausrichter. Die Antwort ist bekannt und verursachte einen hübschen Skandal zwischen Frohnau und Wannsee. Am Ende aber hat die Frontstadt des Kalten Krieges von dem politischen Kuhhandel eher profitiert. Als Kompensation für den Verlust von zwei, drei Vorrundenspielen wurde Berlin vom DFB dauerhaft mit der Ausrichtung des Deutschen Pokalfinales beauftragt. Ohne diese Prestigeveranstaltung wäre das Olympiastadion vielleicht längst verrottet, bevor sich der DFB um die WM 2006 bewarb, dieses Mal mit Berlin als Finalort.

Die Politik spielte auch bei der EM 1992 in Schweden mit. Bei der Auslosung der Qualifikationsgruppen waren die Nationalmannschaften von DDR und Bundesrepublik einander als Gegner zugelost worden, aber diese Konstellation hatte sich mit dem Mauerfall erübrigt. Ohne übergeordnete politische Interessen wären die wiedervereinigten Deutschen vielleicht sogar Europameister geworden. Im Finale unterlagen sie den Dänen, die erst zehn Tage vor Turnierbeginn als Ersatz für die wegen des Balkankrieges suspendierten Jugoslawen eingeladen worden waren.

1996 in England, als die Deutschen bei der stimmungsvollsten aller Europameisterschaften durch ein 2:1 im Finale gegen Tschechien ihren bislang letzten großen Titel feierten, predigte ausgerechnet der stockkonservative Bundestrainer Berti Vogts einen neuen Kollektivismus unter dem Titel: „Der Star ist die Mannschaft!“ Darüber redet sich Vogts’ damaliger Musterschüler noch heute in Rage. „Nicht die Mannschaft ist der Star, sondern die Persönlichkeit“, sagt Matthias Sammer, er dient dem DFB mittlerweile als Sportdirektor. „Wie früher Pelé, Beckenbauer und Maradona, die alle begnadete Einzelspieler waren, ihr individuelles Können aber immer in den Dienst der Mannschaft stellten. Wie übrigens auch Lothar Matthäus, dem man einiges nachsagen kann, aber keinesfalls, dass er nicht immer für die Mannschaft gearbeitet hat.“

Eben dieser Matthäus wäre vier Jahre später bei der EM in Holland und Belgien beinahe durch die Hintertür Bundestrainer geworden. Es heißt, die Nationalspieler Markus Babbel, Jens Jeremies und Dietmar Hamann hätten ihn zum Putsch gegen den überforderten Erich Ribbeck gedrängt. Matthäus habe schon seine Zustimmung gegeben – bis ihm aufgefallen sei, dass er dann ja nicht mehr als Spieler dabei gewesen wäre. Mit dem schon 40 Jahre alten Matthäus auf der international längst abgeschafften Liberoposition trudelten die Deutschen schon in der Vorrunde raus. Und der DFB widmete sich erstmals der Integration von Einwandererkindern. Bis dahin war die Nationalmannschaft eine Ansammlung mehr oder weniger talentierter Kicker mit deutschem Stammbaum. Fortan sollte es eine Auswahl all derer sein, die in diesem Land leben und seinen Alltag prägen.

Das brauchte seine Zeit und zeitigte noch keine Erfolge bei der EM 2004 in Portugal, als abermals nach der Vorrunde Schluss war. Das ermöglichte die von Jürgen Klinsmann angezettelte Revolution, er hatte sie angekündigt mit dem schönen Satz: „Im Prinzip muss man den ganzen Laden auseinandernehmen.“

Genau so ist es gekommen, nicht zum Schaden der Nationalmannschaft. 2008 unterlag sie erst im Finale von Wien den Spaniern, dieses Mal reisen sie als Mitfavorit zur EM nach Polen und in die Ukraine. Mit Spielern, die Özil, Khedira, Cacau, Boateng oder Podolski heißen und die ihre Wurzeln in der Türkei, Tunesien, Brasilien, Ghana oder Polen haben. Dass diese deutsche Multikulti-Nationalmannschaft in ein paar Wochen in den Osten Europas fährt, ist so unumstritten nicht. Allerdings liegt das nicht an der sportlichen Qualität des Turniers mit 16 Teilnehmern, sondern an den politischen Zuständen in der Ukraine. Seit Wochen wird in Deutschland kontrovers diskutiert über die Frage: Darf man, soll man einer von mafiösen Oligarchien gelenkten Demokratie die größtmögliche Bühne zur Selbstinszenierung bieten?

Immerhin dieses Problem wird es bei der nächsten Europameisterschaft 2016 in Frankreich nicht geben.

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