zum Hauptinhalt

Politik: Die Masse macht’s

Weil das Referendum in Holland die Regierung nicht bindet, ist auch die Wahlbeteiligung entscheidend

Ein Gegner der EU-Verfassung, ganz in Orange gekleidet, ist auf eine Bank geklettert, um den Umstehenden sein Urteil über den Vertragstext zuzurufen: „Wir müssen dagegen stimmen. Dieser Text ist undemokratisch. Wir haben unsere Verfassung – wir brauchen keine europäische!“ Einige Umstehende spenden Applaus, ein anderer Mann, der gerade mit seinem Fahrrad angekommen ist, hält dagegen: „Die europäische Verfassung macht Europa demokratischer. Sie hat ein Ja verdient.“

Der Innenhof des niederländischen Parlaments glich am Mittwochnachmittag einer Zirkusmanege. Vor dem Wahllokal 214 in der Den Haager Innenstadt lieferten sich Verfassungsbefürworter und -gegner einen Schlagabtausch nach dem anderen. Und schließlich gewannen – wie in den Umfragen vorhergesagt – doch die Gegner. Und wie: Nach den ersten Hochrechnungen lehnten rund 62 Prozent der Niederländer die EU-Verfassung ab. Nur 38 Prozent stimmten dafür. „Es ist ein Jammer, dass wir diese Niederlage einstecken müssen und nicht mit der Verfassung vorwärts gehen können“, sagte die Fraktionsvorsitzende der regierenden Christdemokraten, Gerda Verburg. Bei den Gegnern war die Freude dafür um so größer: „Die etablierten Parteien und die Brüsseler Elite haben damit einen Denkzettel bekommen. Die Menschen haben gegen einen europäischen Superstaat gestimmt“, meinte der Populist Geert Wilders.

Die Wahlbeteiligung war entgegen den Erwartungen sehr hoch. Zwar wurden nicht die Rekordzahlen aus Frankreich erreicht, aber über 60 Prozent aller Niederländer waren zur Urne gegangen. Das waren über 20 Prozentpunkte mehr als bei den Europawahlen im Juni 2004. Die Beteiligung war so entscheidend, weil das Referendum formal nicht bindend ist. Das letzte Wort hat das Parlament, und dort sind 85 Prozent der Abgeordneten für die EU-Verfassung. Aber bei dieser hohen Wahlbeteiligung werden sich wohl alle großen Parteien dem Willen des Volkes beugen. „Die Mehrheit der Bevölkerung hat ganz klar gesagt, dass es eine solche Verfassung nicht geben kann. Das müssen wir akzeptieren“, sagte Hans van Baalen von Premierminister Jan Peter Balkenendes liberalem Koalitionspartner VVD. Die Wahlbeteiligung war für viele niederländische Politiker dann auch das einzige positive Ergebnis des Tages. „Es gab in unserem Land noch nie eine solch intensive Debatte über Europa. Noch nie haben sich die ausländischen Medien so sehr für uns interessiert. Ich finde das sehr interessant“, sagte der Parlamentspräsident Frans Weisglas. Für Balkenende steht nicht so viel auf dem Spiel wie vorigen Sonntag für die französische Regierung. Denn in den Niederlanden unterstützen alle großen Parteien die EU-Verfassung – auch in der Opposition. Und der Premier hatte bereits kurz vor der Abstimmung angekündigt, dass er auf keinen Fall persönliche Konsequenzen aus dem Referendum ziehen wird.

Viele Wähler beschwerten sich über die viel zu kurze Kampagne und die einseitige Informationspolitik der Regierung. „Das glich Propaganda. Die verkaufen uns für dumm“, sagte eine junge Frau nach ihrer Stimmabgabe im Den Haager Gemeindehaus. „Ich habe dagegen gestimmt, weil in Brüssel alles viel zu schnell geht. Ich bin gegen den Beitritt der Türkei. Jetzt schon arbeiten die Polen bei uns für Dumping-Löhne. Das wird immer schlimmer“, sagte ein älterer Herr.

Ruth Reichstein[Den Haag]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false