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Politik: „Die Mitte fürchtet den sozialen Abstieg“

Hubertus Heil über die neue Drei-Drittel-Gesellschaft, Probleme der Unterschicht und Fehler des Sozialstaats

Herr Heil, niemand will zur Unterschicht gehören. Kommen Sie aus diesem Milieu?

Mit dem Begriff sollte man vorsichtig sein. Kurt Beck und die Sozialdemokraten machen sich diesen Begriff nicht zu eigen. Er wird vielmehr von manchen benutzt, um die Gruppe der Menschen in unserer Gesellschaft zu benennen, die von sozialer Teilhabe weitgehend ausgeschlossen ist. Das war bei mir nicht der Fall. Meine Mutter musste mich und meinen Bruder zwar als Alleinerziehende durchbringen. Aber ich hatte das Glück, dank der sozialdemokratischen Bildungsoffensive der 70er Jahre, dass mir von Anfang an sehr gute Chancen geboten wurden. Ich war nie abgehängt von den gesellschaftlichen Möglichkeiten. Dafür bin ich dankbar.

Wie viele Wähler der SPD zählen denn zur Unterschicht?

Es geht uns dabei nicht um Wählergruppen, wir weisen vielmehr darauf hin, dass unsere Gesellschaft auseinanderzubrechen droht und neue Armut entsteht. Denn Tatsache ist, dass eine wachsende Zahl von Menschen nicht mehr teilhat an Arbeit und Bildung, und einige nicht einmal mehr an der deutschen Sprache. Das bedroht den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Viele, die auf diese Weise abgehängt sind, gehen nicht mehr zur Wahl. Die Mehrzahl der Wählerinnen und Wähler der SPD gehört eher zur arbeitenden Mitte der Gesellschaft: Facharbeiter, Krankenschwestern, Polizisten, Beamte und Selbstständige. Auch diese Mitte der Gesellschaft erlebt mittlerweile, wie schwer sozialer Aufstieg in unserem Land geworden ist. Wir kämpfen dafür, dass jeder eine Chance hat.

Kurt Beck hat als erster SPD-Parteichef auf das Unterschicht-Problem hingewiesen, sich den Begriff aber ausdrücklich nicht zu eigen gemacht. Warum muss man damit so vorsichtig sein?

Menschen dürfen nicht stigmatisiert werden. Es geht ja gerade nicht darum, den Benachteiligten vorzuwerfen, sie seien schuld an ihrer Lage. Kinder, die aufgrund ihrer Herkunft keine Chance auf Bildung und sozialen Aufstieg haben, sind Opfer der Verhältnisse, in die sie hineingeboren werden. Erst die mangelnde Aufstiegsperspektive führt in die Resignation.

Der DGB und auch etliche Politiker Ihrer eigenen Partei warnen, die SPD baue einen Sündenbock auf und sei dabei, sich von den Benachteiligten abzuwenden.

Das Gegenteil ist richtig. Kurt Beck spricht die neuen sozialen Fragen deutlich aus. Unsere Gesellschaft droht in eine Drei-Drittel-Gesellschaft zu zerfallen: Das Drittel, dem es richtig gut geht, vererbt alle Chancen an seine Kinder. Dann gibt es die verunsicherte Mitte der Gesellschaft, die den sozialen Abstieg befürchtet. Schließlich das Drittel, das abgehängt ist, die neuen Armen. Wer das ausspricht, geht den ersten Schritt zur Lösung des Problems. Und das ist das Verdienst von Kurt Beck. Die neue Armut in unserem Land ist nicht nur materielle Armut. Es ist auch eine Armut an Bildung, an Kultur, an Chancen auf ein gesundes Leben. Es geht darum, mit einem vorsorgenden Sozialstaat mehr Lebenschancen zu schaffen. Das soll sich auch in der Debatte um das Grundsatzprogramm der SPD niederschlagen und auch unsere Politik in der Bundesregierung prägen.

Besonders anstößig war für manche Kritiker Kurt Becks Diagnose, dass dieser Gruppe der Aufstiegswillen verloren gegangen sei.

Das ist aber leider ein Phänomen, das es gibt. Viele Menschen resignieren, weil sie erleben, dass sie keine Chance haben, aus ihren schlechten sozialen Verhältnissen herauszukommen. Ein solcher Aufstieg verlangt ja unheimlich viel Kraft. Früher war das das Kernversprechen der sozialen Marktwirtschaft: Wenn du hart arbeitest, kannst du am sozialen Aufstieg teilhaben. Leistung gegen Teilhabe. Heute erleben viele Menschen, dass dieses Prinzip außer Kraft gesetzt ist. Ein Beispiel: Wenn Menschen 3,50 Euro Stundenlohn bekommen und Vollzeit hart arbeiten, fühlen sie sich ausgegrenzt von der Teilhabe an den sozialen Möglichkeiten dieses Landes. Deshalb werden wir das Thema Mindestlöhne in der Koalition auf die Tagesordnung setzen.

Reden wir nicht nur über die Probleme einiger Großstädte wie etwa Berlin?

Nein. Meine Heimatstadt Peine in Niedersachsen ist eine Kleinstadt. Auch hier gibt es Viertel, wo es solche Probleme gibt. Während in den 70er Jahren vielen durch neue Bildungschancen noch der soziale Aufstieg gelang, gibt es heute auch dort Straßenzüge, wo 30 bis 40 Prozent der Menschen an nichts mehr teilhaben, was für gesellschaftliches Leben wichtig ist. Sie haben keine Arbeit, manchmal schon in der zweiten oder dritten Generation, sie sprechen schlecht deutsch, übrigens auch Kinder mit deutschem Pass. Ein Arzt sagte mir, dass dort überdurchschnittlich viele Kinder an Diabetes leiden. Wenn Kinder sich nur noch von Fast Food ernähren, nicht gefordert werden und ihren Tag vor dem Fernseher verbringen, dann sehen wir die soziale Katastrophe der nächsten Jahre schon vor uns. Fast alle Chancen werden diesen Menschen schon am Beginn ihres Lebens geraubt. Wir Sozialdemokraten stellen uns dieser Realität, um diese Verhältnisse zu ändern.

Gehört zu einer ehrlichen Bilanz nicht auch das Eingeständnis, dass der deutsche Sozialstaat auf einem ganz wichtigen Feld offensichtlich versagt hat?

Ich widerspreche energisch den Marktliberalen, die sagen: Der Sozialstaat ist Mist, wir müssen ihn rasieren. Wir brauchen zur Lösung dieser neuen sozialen Frage nicht weniger, sondern einen besseren Sozialstaat, einen, der zielgerichteter eingreift. Wir müssen mehr in Bildung investieren, nicht weniger. Die Art und Weise, wie wir heute den Sozialstaat organisieren, führt in vielen Bereichen nicht mehr dazu, dass wir die Gesellschaft durchlässiger machen. Wir wollen durch einen stärker vorsorgenden Sozialstaat, die Voraussetzungen schaffen, dass möglichst alle Menschen eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben haben.

Wie wollen Sie die Verhältnisse, die Sie auch in Ihrer Heimatstadt Peine finden, ändern?

Wir brauchen für unseren Sozialstaat eine neue Philosophie. Er muss stärker vorsorgend sein. Wir dürfen uns nicht auf materielle Transfers beschränken, sondern die frühe Förderung von Bildung und Gesundheit gewährleisten. Das heißt beispielsweise, dass wir Vorsorgeuntersuchungen für Kinder verpflichtend machen und durch Anreize dafür sorgen, dass alle Eltern davon Gebrauch machen. Die Kindergärten müssen Schritt für Schritt beitragsfrei werden. Kurt Beck setzt dieses in Rheinland-Pfalz gerade um.

Wen wollen Sie mit solchen Ansätzen überzeugen, wenn die Kluft zu den fehlenden praktischen Ergebnissen der Regierungspolitik so groß bleibt, wie sie heute ist?

Wir Sozialdemokraten arbeiten in der Regierung genau an diesen Zielen. Franz Müntefering arbeitet als Arbeitsminister zum Beispiel an einem Konzept für existenzsichernde Löhne. Die große Koalition hat im Übrigen schon vieles auf den Weg gebracht. Mit dem Wachstumspaket, Elterngeld, Föderalismusreform und bei der Haushaltskonsolidierung können wir uns schon sehen lassen.

Aber die schnelle Talfahrt von den großen Hoffnungen zur allgemeinen Enttäuschung ist unübersehbar – jeder Zweite glaubt mittlerweile, dass die große Koalition nicht durchhält.

Über den Sommer hatten wir einige unerfreuliche Debatten. Aber das sollte uns nicht aus dem Tritt bringen. Die Erwartung vieler Menschen ist immer noch: Wenn die drei Volksparteien SPD, CDU und CSU das nicht hinbekommen, wer soll es dann schaffen? Der Weg dieser Koalition reicht bis 2009. Ich warne davor, nach nur einem Jahr den Stab zu brechen. Ich erinnere mich noch gut an das Jahr 1999, an die Aufregung im ersten rot-grünen Regierungsjahr. Die Koalition unter Gerhard Schröder hat es dennoch geschafft, in Deutschland viel voranzubringen. Das muss und wird die große Koalition auch tun.

Was sagen Sie dazu den Gewerkschaftern, die am nächsten Samstag gegen die Regierung demonstrieren?

Die SPD arbeitet in der Koalition auch für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir haben bei den Mindestlöhnen ein klares Konzept, mit den Gewerkschaften. Wir wollen den Vorrang tarifvertraglicher Lösungen. Wir wollen die Möglichkeiten des Entsendegesetzes nutzen. Wenn das nicht reicht, schließen wir Sozialdemokraten gesetzliche Mindestlöhne nicht aus. Das ist die Schrittfolge. Wenn im Sicherheitsgewerbe in Thüringen 3,50 Euro Stundenlohn gezahlt werden, dann ist das schlicht und ergreifend Ausbeutung.

Parallel zur strittigen Mindestlohndebatte wird die große Koalition die Unternehmen steuerlich entlasten …

Nein!

Wir bitten um Erläuterung.

Es geht um eine Unternehmensteuerreform, nicht um eine Entlastung für Unternehmen. Sie folgt der Grundphilosophie, alles, was im Unternehmen investiert wird, steuerlich besser zu behandeln, als das, was entnommen wird. Das ist vernünftig und besser als die heutige Praxis, mit der Unternehmen sich über Tochtergründungen im Ausland gegenüber dem Fiskus arm rechnen können. Wir wollen mit der Reform Beschäftigung und Investitionen in Deutschland fördern und Gewinne in Deutschland versteuern.

Der Finanzminister rechnet mit Steuerausfällen.

Es wird eine unvermeidliche Phase der Anschubfinanzierung geben, wenn wir die Steuersätze senken und gleichzeitig die Ausnahmeregelungen verringern. Aber dauerhaft darf es nicht zu Steuerausfällen kommen.

Gibt es in der SPD eine stille Genugtuung darüber, dass es nach sieben Jahren Schelte über das „rot-grüne Regierungschaos“ nun auch einmal die Union trifft?

In der SPD gibt es einen wachsenden Stolz über den Mut der rot-grünen Bundesregierung, die überfälligen Reformen anzupacken. Das Anziehen der wirtschaftlichen Konjunktur ist ja auch Ergebnis dieser Politik. Genugtuung gibt es auch darüber, dass die schwierigen Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen sich doch gelohnt haben. Aber Häme über die Probleme unseres Koalitionspartners erlauben wir uns nicht. Von einem stabilen Partner haben wir mehr.

Aber es freut Sie doch, dass die SPD nach so vielen Jahren in Umfragen wieder vor der Union liegt?

Ich will nicht bestreiten, dass es ein gutes Gefühl ist, wenn wir uns nach schwierigen politischen Debatten und Personalwechseln wieder Stück für Stück nach oben arbeiten. Aber wir haben gelernt, dass Wahlergebnisse wichtiger sind als Umfragen. Wir wollen den Erfolg der großen Koalition. Und 2009 wird die SPD wieder stärkste Partei.

Und die SPD gerät angesichts ihrer Umfrageerfolge nicht in Versuchung, es vorher darauf ankommen zu lassen?

Nein.

Das Gespräch führten Tissy Bruns und Hans Monath. Das Foto machte Mike Wolff.

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