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Politik: Die Mitte liegt im Osten

Von Christoph von Marschall

Der erste Mann im Staat hat nicht nur die Macht der Rede. Er hat auch die Macht der Reise. Mit den ersten hochsymbolischen Auslandsbesuchen kann er Signale setzen. Noch nie ist ein Bundespräsident als Erstes nach Osten aufgebrochen, auch kein Kanzler. Richard von Weizsäcker, Roman Herzog, Johannes Rau – alle reisten nach Paris. Auch Gerhard Schröder besuchte zuerst Frankreich, Amerika und Großbritannien. Polen und Russland kamen später.

Horst Köhler dreht die Reihenfolge um: erst Polen, dann Frankreich. Ein Zeichen für neue Prioritäten? Die Entscheidung spiegelt seine Biografie wider und die neue Lage in Europa nach der EUErweiterung. Horst Köhler ist 1943 in Polen geboren: im Ort Skierbieszow, aus dem die SS 1942 über Nacht alle Polen vertrieben hatte, um deutschen Umsiedlern aus Bessarabien Platz zu machen. Dorthin reist der Bundespräsident diesmal noch nicht, im Zentrum seiner Polen-Premiere soll nicht die Vergangenheit, sondern die gemeinsame Zukunft stehen. Die will erst gewonnen werden. Mit dem EU-Beitritt der zehn Neuen ist Europa ja nicht vollendet – jetzt fängt die Arbeit erst richtig an.

Seine Vorgänger haben Köhler den Weg geebnet. Roman Herzog und Johannes Rau führte der zweite Besuch nach Polen, aber das waren Reisen in die dunkle Geschichte: bei Herzog 1994 zum 50. Jahrestag des Warschauer Aufstands gegen die Nazi-Besatzer, bei Rau 1999 zum 60. Jahrestag des Kriegsbeginns. Bei Köhler darf das Heute und Morgen stärker neben das Gestern treten. Sein erster Besuch steht für die Wiederentdeckung der Mitte Europas. Die liegt ostwärts.

Frankreich wird dadurch nicht zurückgesetzt. Das deutsch-französische Verhältnis ist fest etabliert. Es bleibt der Schlüssel zu Europas Zukunft. Auch diese enge Beziehung bedarf der Pflege, ist aber nicht mehr eine so große und neue Herausforderung wie die Nachbarschaft nach Osten. Dort kann Köhler mit der ersten Reise noch einen Mehrwert erzielen – für Deutschland und für Europa.

Polen ist nicht mehr Ausland, es ist zu einem Teil der europäischen Innenpolitik geworden. Die Aufmerksamkeit, die dieser erste Besuch auf sich zieht, kann den Deutschen helfen, das zu begreifen – auch, wie sehr ihr Schicksal von der Entwicklung der wieder entdeckten Mitte abhängt. Allein schon wirtschaftlich: Das zeigen die Debatten über Arbeitszeiten und Produktionsverlagerung sowie der anhaltende Exportboom nach Osten.

Aber auch politisch. Der Erfolg – oder Misserfolg – der EU-Erweiterung entscheidet sich nicht allein an ökonomischen Daten. Er hängt ebenso davon ab, wie Völker miteinander umgehen, ob sie einander verstehen und partnerschaftlich helfen oder Angst voreinander haben, weil sie in den anderen nur Konkurrenten um Jobs und Wohlstand sehen. Die Deutschen müssen sich die Kenntnis dieser neuen, alten Mitte erst wieder aneignen und ein Gespür dafür entwickeln, was Polen, Tschechen, Ungarn und Balten bewegt. Der Aufstieg von Populisten und andere Krisennachrichten aus den jungen Demokratien, die wir im Westen als Zeichen von Instabilität wahrnehmen, sind zum Teil nur Ausdruck der Verunsicherung der Bürger dort: ihrer Angst vor uns im Westen.

Bundespräsident Köhler – und Kanzler Schröder bei seinem Besuch am 1. August – können den Polen Mut machen: Wir glauben an euren Erfolg trotz aller Krisen, wir brauchen und wollen euch in Europa. Die Hoffnung liegt ostwärts. Das wäre auch ein Mutmacher für uns Deutsche.

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