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Politik: Die neue Lust am Untergang

Von Hartmut Wewetzer

Aids hat viele Gesichter. Da ist die dramatische Situation in Afrika mit schätzungsweise 25 Millionen Infizierten, da sind die neuen Brennpunkte Osteuropa und Asien. Und Deutschland? Wer nur die nackten Zahlen betrachtet, wird wenig Anlass zum Alarm sehen. 40 Millionen HIVInfizierten weltweit stehen etwa 44000 in Deutschland gegenüber, das ist etwa ein Promille. Kein Grund zur Sorge also, zumindest hier zu Lande?

Nicht ganz. Seit zwei Jahren registriert das Robert-Koch-Institut wieder mehr Infektionen mit dem Immunschwächevirus unter Männern. Der Grund, behördlich- trocken formuliert: Zunahme von Risikoverhalten. Die neue Lust an der Gefahr hat der Modeschöpfer Wolfgang Joop in der „Zeit“ anschaulich beschrieben und auf Bareback-Partys hingewiesen, dem letzten Schrei in der Schwulenszene. Bareback bedeutet „ohne Sattel reiten“. Denn bei Bareback-Treffen sind Kondome verpönt – „russisches Roulette ohne Pistole, Sex auf Leben und Tod“.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: an solchen Praktiken beteiligt sich nur eine Minderheit unter den Schwulen, und auch Heterosexuelle bringen sich und andere durch ungeschützten Sex in Gefahr. Aber dekadente Partys, bei denen die Gefahr die Lust noch einmal steigern soll, sind vielleicht das sichtbarste Zeichen dafür, dass Aids seinen Schrecken verloren hat. Die Krankheit, die einmal apokalyptische Furcht auslöste – kann Aids durch Mückenstiche übertragen werden? – wird mehr und mehr ignoriert. Die Wissenslücken der Generationen, die nicht den Aids-Schock der achtziger Jahre erlebten, sind mittlerweile beträchtlich.

Es sind vermutlich zwei Gründe, die das Thema in den Hintergrund gedrängt haben. Zum einen ein psychologischer: Viele sind des Aids-Alarms überdrüssig geworden. Stets auf der Hut sein, neue Partner als potenzielle Gefahr ansehen zu müssen, das ist auf die Dauer schwer auszuhalten. Und dann ein medizinischer: Die neunziger Jahre brachten einen echten Durchbruch, nämlich eine ganze Palette hochwirksamer Medikamente. Aids wurde behandelbar, zumindest in den Industrienationen, die sich die immens aufwendige und teure Therapie leisten konnten. Die Bilder der ausgemergelten Opfer der Immunschwäche verschwanden von der Bildfläche.

Die moderne Aids-Therapie ist, keine Frage, ein Triumph der Medizin. Aber der Sieg ist nicht endgültig, und er hat die Illusion genährt, Aids sei heilbar. Diese Hoffnung hat getrogen. Medikamente können die Virusvermehrung unterdrücken, aber den Erreger nicht aus dem Körper vertreiben. Zudem hat das Virus gelernt, sich anzupassen. 16 Prozent aller frisch Infizierten haben bereits Viren im Blut, die gegen bestimmte Medikamente widerstandsfähig sind. Und schließlich sind die Aids-Medikamente keine Rundum-sorglos-Pillen, sondern haben mitunter erhebliche Nebenwirkungen.

Von den 44000 Menschen, die in Deutschland mit dem Immunschwächevirus HIV infiziert sind, sind 5000 bereits an Aids erkrankt, und für 2004 rechnet man mit 700 weiteren Fällen. Zwar gelingt es immer besser, die „opportunistischen“ Krankheitserreger in den Griff zu bekommen, die früher typischen Killer der Aids-Kranken. Das gilt aber nicht für aidsbedingte Krebsleiden, im Gegenteil. Tumore, die bisher nicht mit der Krankheit in Verbindung gebracht wurden, nehmen sogar zu. Aids tötet weiter.

Im Kampf gegen die Krankheit bleiben Aufklärung und Wachsamkeit die wichtigsten Waffen. Das trifft umso mehr zu, weil Deutschland keine Insel ist und die Herausforderungen durch die globale Epidemie zunehmen werden. Schon heute wird jede fünfte neue HIV-Infektion bei Einwanderern aus Gebieten mit hohem Aids-Risiko festgestellt. Wissenslücken und Gleichgültigkeit zeigen, dass die Prävention angemessen finanziert und auch verbessert werden muss. Ein Beispiel dafür sind die angestaubten AntiAids-Kampagnen, die seit Jahren auf Kondom-Abbildungen fixiert sind und an der Jugend vorbeigehen. „Schweigen = Tod“ lautet ein Slogan der Anti-Aids-Aktivisten. In Zeiten des Leichtsinns ist dieser Spruch wahrer denn je.

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