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Politik: Die Reifeprüfung

Von Malte Lehming

Die Welt von heute gibt es nicht. Sie darf es nicht geben. Gut muss gut und falsch falsch bleiben. So wollen es die Mahner, Warner, Bedenkenträger. Aber es gibt die Welt von heute. Begreifen wir sie noch? Die drei Länder, die George W. Bush einst als „Achse des Bösen“ brandmarkte – Irak, Iran, Nordkorea –, sind ins Zentrum der Weltpolitik gerückt. Vielleicht hat er doch den richtigen Riecher gehabt. In Afghanistan und dem Irak wurde zum ersten Mal frei gewählt. Das schien in dieser Region unmöglich. Im Nahen Osten gedeihen wieder Friedenshoffnungen – obwohl Jassir Arafat starb und Ariel Scharon an der Macht blieb, der HamasFührer umbringen ließ und eine Mauer baute. All das hätte nach Meinung der Pessimisten nie geschehen dürfen. Fakten können verwirrend sein.

Bush schert sich selten um Einwände. Er vertraut den Instinkten. Die drei wichtigsten Themen seiner Präsidentschaft verkündete er früh: Verbreitung der Demokratie, Kampf gegen den Terror, Reform des Sozialstaates. An ihnen hält er mit einer Sturheit fest, die seine Anhänger als Charakterstärke preisen und seine Gegner als Fanatismus verdammen. Ein reaktiver Präsident, der sich seine Agenda von tagesaktuellen Herausforderungen diktieren ließe, war er nie. Bush will gestalten. Er denkt groß. Anfangs wurde er als Hochstapler verspottet. Inzwischen nimmt man ihn ernst. Seine Worte sind sein Projekt. Sein Projekt verfolgt er hartnäckig.

Seine Wiederwahl hat ihn gestärkt. Begeistert, ja euphorisch wurden in Amerika die Wahlen im Irak wahrgenommen. Bis vor kurzen schienen alle Kriegsgründe perdu. Plötzlich riskieren viele Iraker ihr Leben für die Demokratie. Hat sich das Abenteuer doch gelohnt? Bush ist überzeugt davon, dass die Entwicklungen ihn tragen. Er wähnt seine Visionen bestätigt durch die Realität. Allein, aber mit Gott gegen den Rest der garstigen Welt: Haben nicht auch Daniel und Noah dieses Schicksal durchlitten? Der Gläubige versetzt Berge. Bush sieht sich in einer Reihe von Unverstandenen und Verspotteten, die am Ende Recht behielten.

Die Wirtschaft floriert, die Arbeitslosigkeit bleibt niedrig, ebenso die Steuerlast, in den Irakkrieg ist wieder Sinn eingekehrt: Mit diesen Leistungen im Gepäck kommt Bush bald nach Europa. Zur Vorbereitung ist Außenministerin Condoleezza Rice heute in Berlin. Diese Visiten ermutigen. Europa gilt wieder was im Weißen Haus. Das Gewicht von China und Indien mag gewachsen, der Groll über den Irakstreit nicht vergessen sein. Durchgesetzt aber haben sich die Transatlantiker. In Bushs zweiter Amtszeit könnte der „Westen“ wiedergeboren werden: diese faszinierend ehrgeizige Idee einer Wertegemeinschaft, die gemeinsam die Welt zum Besseren wendet, jeder nach seinen Fähigkeiten.

Die Richtung hat der US-Präsident so klar wie pathetisch vorgegeben: Ausbreitung der Freiheit, Abschaffung der Tyrannei. Über die Mittel will er sich künftig eng mit Europa abstimmen. In der Ukraine hat die Zusammenarbeit hervorragend funktioniert. Für das Gelingen der Wahlen im Irak lobte Bush ausdrücklich die Hilfe der UN und der EU. Amerika hat Bush am 2. November ein neues Mandat gegeben. Der Irak hat am Sonntag ein beeindruckendes Zeugnis demokratischer Aufbruchstimmung abgelegt. Nun steht Europa vor der Wahl: Will man die USA weiter beargwöhnen und möglichst eindämmen? Oder soll Bushs Besuch den Beginn einer neuen Freundschaft begründen? Sie wäre abgeklärter als die alte, ehrlicher, respektvoller. Mit anderen Worten: Wir wären aneinander gereift.

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