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Politik: Die Russen drängen an die Urnen

Regierung setzt auf hohe Wahlbeteiligung, um Zweifel an Legitimation des neuen Parlaments zu zerstreuen

Es ist kurz vor zehn. Ein trüber Wintermorgen dämmert herauf. Um diese Jahreszeit wird es in Moskau erst gegen halb neun hell. Es ist sehr glatt. Der Schneematsch auf den Straßen ist durch den Kälteeinbruch in der Nacht zu Sonntag zu einer buckligen Eisdecke gefroren. Zwei Rentnerinnen haben sich untergehakt und setzen vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Der Weg zum Wahllokal, das keine 500 Meter entfernt ist, erscheint ihnen endlos. Wahlpflicht, zu Sowjetzeiten ungeschriebenes Gesetz, ist seit nunmehr siebzehn Jahren zwar Vergangenheit. Doch gerade die ältere Generation hat sie nach wie vor verinnerlicht. Und diesmal ist auch wieder ein bisschen Angst mit dabei. Vor allem auf dem flachen Lande laufen Gerüchte um, dass alle mit knallharten Konsequenzen zu rechnen hätten, die zu Hause bleiben oder ihr Kreuz bei der Opposition machen: Einstellung der Rentenzahlung, Entlassung, Exmatrikulation. Sogar von versteckten Videokameras in den Wahlkabinen war die Rede.

Zwar wäre es für die staatlichen oder staatsnahen TV-Sender ein Leichtes gewesen, dies zu dementieren. Doch nichts dergleichen geschah. Zwar galt der Sieg der Kremlpartei „Einiges Russland“ schon Anfang Oktober, nach Putins Nominierung zum Spitzenkandidaten, als sicher. Doch die Einheitsrussen wollten von Anfang an mindestens zwei Drittel der insgesamt 450 Sitze in der Duma, über deren Vergabe gestern insgesamt 109 Millionen Stimmberechtigte zu entscheiden hatten. Nur so lassen sich Verfassungsänderungen durchsetzen, die Putin den Verbleib an der Spitze der Machtpyramide ermöglichen.

Mindestens ebenso wichtig war aus Sicht der Kremls eine hohe Wahlbeteiligung. Massive Behinderungen der Opposition – ungleiche Chancen in den Medien, wo Putin sein Präsidentenamt völlig ungeniert zum Stimmenfang für die Kremlpartei missbrauchte, Verhaftungen von Regimekritikern, Hacker-Attacken auf deren Websites oder Weigerungen von Druckereien, ihre Wahlkampfbroschüren zu drucken – ließen hier und im westlichen Ausland schon im Vorfeld der Abstimmung Zweifel an der Legitimität des neuen Parlaments aufkommen. Die Verwaltungschefs der über 80 Regionen hatten daher Ordre, in ihrem Bereich für die nötigen Kopfzahlen zu sorgen, um diesen Eindruck zu neutralisieren und waren dabei auch höchst erfolgreich.

Tschukotka, der nordöstlichste Zipfel Russlands und der Moskauer Zeit um neun Stunden voraus, meldete, als die Wahllokale um 20 Uhr Ortszeit schlossen, eine Beteiligung von 76 Prozent. In Murmansk an der Barentssee, wo gestern die Polarnacht begann, standen die Wähler schon vor Beginn der Abstimmung um acht Uhr in der Frühe Schlange. Auch in der südrussischen Region Krasnodar lag die Beteiligung schon gegen Mittag doppelt so hoch wie bei den letzten Wahlen im Dezember 2003. Ebenso in Tschetschenien.

Sogar in Moskau hatten gegen zwölf Uhr Ortszeit bereits knapp dreizehn Prozent ihre Stimme abgegeben. Darunter auch Präsident Wladimir Putin und Ehefrau Ljudmila. Beide coram publico, obwohl das Gesetz Wahlkabinen vorschreibt. Er sei bester Stimmung, sagte der sichtlich entspannte Kremlchef. Der Wahlkampf sei „Gott sei Dank“ vorbei. Jetzt würden die Bürger Russlands ihr „Kreuz bei der Partei machen, deren Programm sie am meisten überzeugt hat“.

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