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Politik: „Die Schlechten werden sich vernichten“

Der Deutsche Bundestag gedenkt der Opfer – und schämt sich für die Neonazis

Berlin - Kaum hatte Wolf Biermann seine Gitarre gegriffen und den Bundestag mit den anderen Ehrengästen verlassen, war die deutsche Politik plötzlich wieder ganz bei sich: Joschka Fischer besprach sich mit Göring-Eckardt, Merkel stand mit Kauder und von Klaeden zwischen den Stuhlreihen. Die kurze Gedenkfeier des Bundestages zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz war vorüber, in einer halben Stunde würden Mineralölsteuerentwicklung und Scheinvaterschaften debattiert werden.

Umgekehrt fand die deutsche Gegenwart auch ihren Weg in die Gedenkfeier: Dass „Neonazis in einem deutschen Parlament“ sitzen, sagte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, sei eine Schande und eine große Herausforderung. „Rechtsextremistische Einstellungen sind in Teilen der Gesellschaft fest verankert.“ Die Deutschen hätten eine „aus der beschämenden Erinnerung erwachsende Verantwortung in der Gegenwart und für die Zukunft“.

Auch der Auschwitz-Überlebende Arno Lustiger ging in seiner Gedenkrede auf den Einzug der NPD in Sachsens Landtag ein. „Ist es nicht an der Zeit, dass deutsche Verfassungsrichter ihre Samthandschuhe ausziehen, wenn es sich um Feinde unserer Verfassung und Demokratie handelt?“, fragte er. Innenminister Otto Schily, der mit einem Verbot der Partei gescheitert war, stimmte in den darauf anschwellenden Applaus nicht ein.

Lustiger warnte auch vor einem Antisemitismus islamischer Prägung. Der sollte „nicht alleine die Sorge der Juden sein, denn in Europa wirken Kräfte, die unsere gemeinsame Zivilisation ins Mittelalter zurückbomben wollen“. Viele deutsche Judenretter, so der 1924 im polnischen Bedzin geborene Lustiger, hätten noch immer keine Fürsprecher. Er schlug vor, in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem in der „Allee der Gerechten“ drei Bäume zu pflanzen: „Für die deutschen Judenretter, für die tapferen Frauen von der Rosenstraße und für die Retter in Uniform.“ Lustiger, dessen Rede mit stehenden Ovationen aufgenommen wurde, bat seinen „Freund“ Wolf Biermann, aus dem „Großen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk“ des in Auschwitz umgekommenen Lyrikers Jitzchak Katzenelson vorzutragen. „Die Schlechten werden sich vernichten“, hatte Katzenelson 1943 gedichtet. Das habe sich als falsch erwiesen, sagte Biermann, dessen Vater in Auschwitz umgebracht worden war. Die Deutschen lebten noch, aber sie hätten sich verändert. „Einige haben sogar etwas gelernt.“

Paul Spiegel, als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland einer der Ehrengäste, nannte die Gedenkfeier „würdig und würdevoll“. Im Gegensatz zur UN-Feier, wo einige Sitze leer geblieben seien, wären Regierung und Parlament vollständig anwesend gewesen. Dies zeige, wie sehr sie sich der Bedeutung dieses Tages bewusst seien. „Das macht Mut, hier weiterzumachen, hier weiterzuleben“, sagte Spiegel.

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