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Politik: Die Schweizer Flüchtlingspolitik von 1940 bis 1945 im Spiegel der Filmwochenschau

Durch die Abriegelung ihrer Grenzen hat die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs dazu beigetragen, dass das deutsche NS-Regime seine Ziele erreichen konnte. Diesen Vorwurf haben vor kurzem die Historiker der unabhängigen schweizer Bergier-Kommission erhoben.

Durch die Abriegelung ihrer Grenzen hat die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs dazu beigetragen, dass das deutsche NS-Regime seine Ziele erreichen konnte. Diesen Vorwurf haben vor kurzem die Historiker der unabhängigen schweizer Bergier-Kommission erhoben. Nach dem Bericht der Experten steht jetzt die Schweizerische Flüchtlingspolitik während des Nationalsozialismus erneut zur Debatte.

Die damalige Mentalität in der Schweiz zeigt sich auch in der Schweizer Filmwochenschau jener Jahre. Die Berichte von 1949 bis 1945 geben Aufschluss über die Einstellungen von Bevölkerung oder Behörden gegenüber Flüchtlingen. Auch zeigen sie, wie die politische "Grosswetterlage" die Berichterstattung beeinflusste.

Schaut man sich die Wochenschauen heute an, überrascht zunächst die relativ hohe Anzahl von Beiträgen zur Flüchtlingsthematik. Seit der ersten Wochenschau-Ausgabe vom 1. August 1940 bis zum Ende 1945 erschienen 21 Berichte. Fast alle Ausgaben fokussieren auf die Arbeit des Schweizerischen Roten Kreuzes. Deutlich untervertreten sind die Zivilflüchtlinge. Erstmals im Dezember 1944, als sich die politische Situation entspannt hatte, rückte sie die Wochenschau ins Bild und widmete der fliehenden Zivilbevölkerung der elsässischen Gemeinde Hüningen (bei Basel) eine Schwerpunktnummer. Jüdische Flüchtlinge wurden sogar erst nach Kriegsende, im Sommer 1945 thematisiert.

Frei von Brisanz und auch besser zum Konzept des ersten Chefredaktors Paul Ladame passend, waren die zahlreichen Berichte über "kriegsgeschädigte Kinder", die unter der Ägide des Roten Kreuzes jeweils drei Monate bei Schweizer Familien verbrachten. Nach der Grenzsperre vom 13. August 1942 verschwanden mit einer Ausnahme sogar "kriegsgeschädigte Kinder" und Internierte vollständig aus der Wochenschau. Die Wochenschau-Berichterstattung über Flüchtlinge war unmittelbar an die jeweilige Flüchtlingspolitik gekoppelt. Dabei zeigt sich ein Gesetz des Positiven. Problematische Ereignisse und Begebenheiten - also auch grosse Teile der Flüchtlingspolitk - wurden ausgeblendet.

Die politische Situation schlug sich teilweise direkt in der Ästhetik nieder. Die 40 000 französischen und polnischen Soldaten, die ab dem 15. Juni 1940 im Jura die Schweizer Grenze als Internierte überschritten, wurden anders ins Bild gesetzt als jene 2000 Zivilflüchtlinge aus dem Elsass, die im Dezember 1944 in Basel aufgenommen wurden. Erstere erscheinen nur in kleinen Guppen, aufgenommen in Halbtotalen, so dass der Eindruck einer relativ bescheidenen Flüchtlingskolonne entsteht. Ungleich eindrücklicher wirkt der zwanzigmal kleinere Elsässer "Flüchtlingsstrom", dessen Ausmaß mit Kamerafahrten, Totalen, dramatisierender Musik und beschwörendem Kommentar betont wird. Ende 1944 war die Niederlage Deutschlands absehbar, die Kritik an der rigiden Schweizerischen Flüchtlingspolitik wurde im In- und Ausland immer lauter: Anlass für die Wochenschau, offene Grenzen und erstmals zivile Flüchtlinge ins Bild zu rücken. Der Vergleich aller Berichte zeigt durch die unterschiedliche Emphase vor allem des Kommentars eine eigentliche Flüchtlingshierarchie, die weitgehend mit der historisch nachweisbaren "Aufnahmehierarchie" übereinstimmt. Militärpersonen, deren Aufenthalt finanziell, zeitlich und völkerrechtlich geregelt war, erhalten weit größere Aufmerksamkeit als Zivilpersonen. Kinder wurden Erwachsenen gegenüber systematisch bevorzugt. "Freundliche Nachbarn" (Kommentar) aus dem Elsass scheint man bereitwilliger aufgenommen zu haben als "unschuldige" jüdische Menschen. Die Dominanz des Roten Kreuzes in der Wochenschau legt den Schluss nahe, dass die Schweiz lieber Geldbörsen als Grenzen öffnete.Der Autor ist Historiker und Filmjournalist und lebt in der Schweiz. Er arbeitet für das Bundesarchiv, Bern.

Thomas Schärer

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