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Die soziale Landkarte: Wo Armut wohnt

In Berlin und im Ruhrgebiet nimmt die Armutsgefährdung am schnellsten zu. Das hat der Paritätische Wohlfahrtsverband festgestellt. Was sind die Ursachen?

Es ist ein alarmierender Befund: Berlin ist neben dem Ruhrgebiet die deutsche Region, in der die Armutsgefährdung am stärksten zunimmt. Und bundesweit hat die Quote der Armutsgefährdeten im Jahr 2011 mit 15,1 Prozent ihren Höchststand seit der Vereinigung erreicht – gegenüber dem Jahr davor stieg sie so stark wie nie. Betroffen sind inzwischen 12,4 Millionen Menschen, eine halbe Million mehr als 2010. Das sind die Ergebnisse des Armutsberichts, den der Paritätische Wohlfahrtsverband am Donnerstag vorlegte. In Berlin und dem Ruhrgebiet hätten sich „geradezu dramatische Verwerfungen ereignet“, konstatierte Verbandsgeschäftsführer  Ulrich Schneider. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) sagte der Nachrichtenagentur dpa, man müsse die Ergebnisse des Berichts „ernst nehmen und entsprechend darauf reagieren“. Auch wegen der guten wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt steige die Gefahr der Schieflagen. „Diesen Verwerfungen müssen wir begegnen.“ Dazu gehörten bessere berufliche Qualifizierungsmöglichkeiten und die Einführung eines Mindestlohns.

Warum hat die Armutsgefährdung in Deutschland so zugenommen?

Der Wohlfahrtsverband nennt dafür vor allem einen Grund: die Ausweitung geringfügiger Beschäftigung. Auffällig sei nämlich, dass die Armutsgefährdung zugenommen habe, obwohl die Zahl der Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfänger im gleichen Zeitraum weiter gesunken sei. Das, so Schneider, sei „ein unübersehbarer Fingerzeig auf Niedriglöhne und prekäre, nicht auskömmliche Beschäftigungsverhältnisse“. Immer mehr Menschen hätten Arbeit, könnten von ihr aber nicht mehr leben. Offensichtlich würden die statistischen Erfolge der Arbeitsmarktpolitik „mit einer Amerikanisierung des Arbeitsmarktes (...) erkauft“. Hinzu kämen noch etliche sozialpolitische Sparmaßnahmen. Als Beispiele nannte Schneider die Streichung des Elterngeldes für Hartz-IV-Empfänger, die Abschaffung der Energiekostenkomponente beim Wohngeld oder das Auslaufen von Programmen für Langzeitarbeitslose.

Wo gibt es besonders viele arme Menschen?

Die größten Problemregionen sind Berlin und das Ruhrgebiet. Was sich hier ereigne, komme „einem armutspolitischen Erdrutsch gleich“, sagt Schneider. In Berlin sprang die Armutsgefährdungsquote von 19,2 auf 21,1 Prozent, im nordrhein- westfälischen Revier von 17,4 auf 18,9 Prozent. In Duisburg stieg die Gefährdungsquote seit 2006 um mehr als 45, in Essen seit 2007 gar um 57 Prozent. Hamburg legt in nur einem Jahr um zehn Prozent zu. Bayern und Baden-Württemberg dagegen glänzen mit weitgehend konstant gebliebenen Quoten von etwas mehr als elf Prozent. Interessant bei alledem: Die Schere zwischen Ost und West schließt sich beim Thema Armut zunehmend. Die Annäherung sei in etwa gleichen Teilen auf eine Verbesserung der Situation im Osten und eine Verschlechterung der Lage im Westen zurückzuführen, heißt es in dem Bericht. Auffallend ist weiterhin, dass auch die Armutsgefährdung von Bürgern mit Migrationshintergrund abnimmt.

Warum ist die Situation in Berlin so schlecht?

In Berlin stieg die Quote der Armutsgefährdeten in fünf Jahren um fast 25 Prozent. Dabei stechen drei Auffälligkeiten ins Auge: Die Stadt kommt auf eine deutlich höhere Aufstockerquote als andere Regionen, der Niedriglohnsektor ist hier größer als anderswo. Vergleichsweise groß sind auch die Bedarfsgemeinschaften. Wenn in Berlin ein Haushalt armutsgefährdet ist, trifft es mehr Familienmitglieder. Und dann spielt auch der Speckgürtel eine Rolle. Die Wohlhabenderen zieht es ins Umland. Im Kreis Teltow-Fläming liegt die Armutsgefährdungsquote bei elf, in Potsdam-Mittelmark bei 7,5 Prozent – Tendenz weiter fallend.

Brandenburg gehörte bisher mit Hamburg und Thüringen zu den Ländern, in denen die Armutsgefährdung seit 2005 kontinuierlich zurückging. Dieser Positivtrend ist nun jedoch auch gestoppt, die Quote der Mark stieg 2011 erstmals wieder von 16,3 auf 16,9 Prozent.

Generell lässt sich sagen, dass die Musterländer Baden-Württemberg und Bayern ihren Strukturwandel bereits abgeschlossen haben, andere Regionen dagegen noch mittendrin stecken. Oft geht es schlicht um die Industrie. Das ostdeutsche Thüringen etwa, das 2011 als einziges Land eine deutlich gesunkene Armutsgefährdung hinbekam, profitiert von den Neuansiedlungen im Süden des Landes, etwa in der Region Jena.

Ist Armut in Stadt und Land überhaupt vergleichbar?

In den Städten spielen die Wohnkosten die überragende Rolle, auf dem Land geht es vor allem um Mobilität. Für Arme ist dort der günstige Supermarkt oft ebenso schwer zu erreichen wie der Sportverein. Entscheidend ist auch, ob Betroffene über familiäre oder nachbarschaftliche Netzwerke verfügen. Die Studien können deshalb nur Aussagen über generelle Entwicklungen und Vermögensspreizungen treffen. Es macht zudem einen Riesenunterschied, ob sich ein 50-Jähriger mit 830 Euro im Monat begnügen muss oder ein Student, der später einmal in die Anwaltskanzlei seines Vaters einsteigen wird.

Wie lässt sich die Tendenz stoppen?

Mit einem Sofortprogramm, das gut zehn Milliarden Euro umfassen müsse, sowie mit langfristigen strukturpolitischen Maßnahmen, empfiehlt der Verband. Nötig seien etwa ein Mindestarbeitslosengeld I, höhere Hartz-IV-Sätze inklusive Energiekostenübernahme sowie öffentlich geförderte Beschäftigung – plus gesetzlicher Mindestlohn. Wobei sich Verbandschef Schneider keinen Illusionen hingibt. Die 13 Euro pro Stunde, die Vollerwerbstätige benötigten, um auch im Alter nicht in Armut abzurutschen, seien politisch „nicht machbar“. Insofern könne man auch auf ein begleitendes Mindestrentensystem nicht verzichten. Bezahlen müssten das alles die Besserverdienenden. „Wer wirklich etwas tun will gegen den Verfall sozialer Infrastruktur in vielen Kommunen, kommt nicht darum herum, den Reichtum in Deutschland stärker zu besteuern als bisher.“

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