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Politik: Die Sprengkraft der Freiheit

Von Christoph von Marschall

Freiheit ist ansteckend. Aber die Macht, die der Bazillus in der arabischen Welt entwickelt, kommt überraschend. Nachrichten wie jetzt aus Libanon kannte die Welt aus Mittel und Osteuropa: Demonstranten erzwingen mit Straßenprotesten den Rücktritt einer Regierung. Und trotzen der Besatzungsmacht das Versprechen ab, die fremden Soldaten abzuziehen. Wer denkt da nicht an Polen und Ungarn 1989 oder an die Wende in der Ukraine vor wenigen Wochen und in Georgien ein Jahr zuvor?

Gewiss, Libanon ist nicht typisch für die arabische Welt, eher die Ausnahme. Es war schon vor Jahrzehnten das offenste und freizügigste Land mit vergleichsweise aufmüpfigen Medien. Was man von Arabiens Leitnationen Ägypten und Syrien nicht sagen kann. Aber auch dort ist der Wandel unübersehbar. In Ägypten wurden im Dezember Demonstrationen zugelassen. Gegen eine fünfte Amtszeit des Präsidenten Mubarak erhebt sich offener Widerspruch – wenn er doch antritt, dann jedenfalls nicht ohne Gegenkandidaten. Iraker und Palästinenser haben frei gewählt. Im Emirat Katar ist die Zensur abgeschafft. Selbst Saudi-Arabien experimentiert mit Kommunalwahlen. Kommt da eine ganze Region in Bewegung, weil sich kein Land dem wind of change in der Nachbarschaft auf Dauer entziehen kann?

Polen und seine unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc waren 1989 auch nicht der Regelfall im Ostblock. Doch der Sog der friedlichen Revolution machte an den Grenzen nicht halt. Danzig, Budapest, Leipzig, Prag, Sofia und schließlich sogar Bukarest – eine ganze Region probte erfolgreich regime change. Und nun Arabien? Dort fragen viele Bürger angesichts des Wandels in Libanon, Irak und Palästina genau so wie seinerzeit Osteuropäer beim Blick auf Polen: Wenn es dort möglich ist, warum nicht auch wir!

Das klingt nach einem Vergleich des Unvergleichbaren. Die Voraussetzungen in Ostmitteleuropa 1989 waren andere. Die Völker dort hatten bereits eine, wenn auch kurze Erfahrung mit parlamentarischer Demokratie aus der Zeit zwischen den Weltkriegen. Durch eine, wie sich zeigen sollte, effektive Mischung aus Dialog und Druck hatte der Westen die kommunistischen Regime allmählich aufgeweicht. Die militärische Option, über die sich Europa und Amerika im Irak zerstritten, gab es angesichts der Atomwaffen ja nicht. In der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) einigten sich Ost und West auf zivilgesellschaftliche Mindeststandards, auf die konnten sich die Bürgerrechtler berufen. Das Wettrüsten zwang den Ostblock ökonomisch in die Knie. Eine große Rolle spielte die Ausstrahlung solcher Persönlichkeiten wie der polnische Papst, Michail Gorbatschow und auch Ronald Reagan. Allgemein akzeptierte Gegeneliten standen zur Machtübernahme bereit.

In Arabien ist vieles anders, die Unterschiede zwischen den Ländern sind ungleich größer als in Osteuropa. Libanon ist schon fast westlich. In Ägypten oder Syrien gibt es scheinbare Mehrparteiensysteme, die an die Blockparteien im Ostblock erinnern, die Frauen haben Wahlrecht. In den Monarchien am Golf ist das immer noch die Ausnahme. Eine Revolution des politischen Denkens wie die Aufklärung in Europa, die das Verhältnis von Religion, Staat und Gesellschaft modernisierte und aus Untertanen Bürger machte, hat es im Islam nicht gegeben. Doch das sind keine unüberwindbaren Hindernisse, eher Argumente gegen zu große Erwartungen. Arabien wird nicht in drei oder fünf Jahren demokratisch.

An uns im Westen stellen sich die gleichen Fragen wie damals: Wollen wir den Wandel unterstützen, auch wenn er zunächst die gewohnte Stabilität bedroht? Was sind die richtigen Mittel? Dissidenten unterstützen, nicht Regime stützen, zum Beispiel. Zivilgesellschaften brauchen geschützte Räume, um in Diktaturen zu wachsen. Politischer und ökonomischer Druck helfen. Besonders mutig war der Westen damals nicht, das Kriegsrecht in Polen hat er nur mit lauen Protesten begleitet. Wäre mehr möglich gewesen – und früher? Die Araber, die unter hohem persönlichen Risiko für Freiheit eintreten, sollten sich auf uns verlassen können. Und nicht verlassen fühlen.

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