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© REUTERS

Politik: „Die Taliban werden unterschätzt“

Die Angriffe waren gut koordiniert, sagt der Afghanistan-Experte Ruttig. Die Nato-Truppen hatten das so offenbar nicht erwartet.

Wie ist diese Frühjahrsoffensive der Taliban in Kabul und anderen Städten Ostafghanistans einzuordnen?

Die Taliban haben jedes Jahr nach dem afghanischen Jahreswechsel Ende März ihre militärischen Aktivitäten verstärkt, weil nach der Schneeschmelze die Bewegungsfreiheit größer ist. Dieses Jahr haben sie es aber nicht vorher angekündigt, wohl um die Nato-Streitkräfte in Sicherheit zu wiegen. Mit Erfolg: Vor einer Woche erst sagte General Carsten Jacobson, Isaf-Sprecher in Kabul, es gebe keine Anzeichen für einen geplanten koordinierten Angriff der Taliban. Da hat er sich getäuscht. Und auch die entsprechenden Geheimdienste, die diese Informationen zusammengetragen haben.

Tatsächlich erfolgten die Attacken koordiniert und sogar in mehreren Städten.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Taliban jemals zuvor in vier Provinzhauptstädten gleichzeitig angegriffen hätten. In Kabul haben sie an vier Orten zugeschlagen, unter anderem im Parlament im Westen der Stadt, im Zentrum, wo viele Botschaften stehen und der Präsidentenpalast, und östlich am Isaf-Camp Warehouse. In den Provinzen Logar, Nangahar und Paktia wurden ebenfalls strategische Einrichtungen angegriffen wie US-Basen, die Compounds der Provinzgouverneure, Polizeihauptquartiere, und mindestens einmal der Geheimdienst – das ist ziemlich groß.

Was sagt das über den Zustand der Aufstandsbewegung aus?

Wenn sie solche Aktionen ausführen kann, ist die Aufstandsbewegung noch gut aufgestellt und hat zudem guten Zugang zu Informationen. Allein in Kabul ins Parlament zu gelangen ist sehr schwer angesichts der Sicherheitsvorkehrungen. Und es zeigt, dass die Taliban, was Isaf- und Nato-Verlautbarungen betrifft, unterschätzt werden. Zuletzt wurde oft gesagt, dass die Zahl der Talibanaktionen stark gesunken sei und viele Kommandeure ausgeschaltet wurden. Die heutige Aktion spricht dafür, dass die Taliban noch in der Lage sind, sehr gefährlich zu operieren.

Was bedeutet diese Entwicklung für die Gespräche mit den Taliban?

Nun, die Taliban haben die Gespräche vor einigen Wochen ausgesetzt mit der Begründung, die Amerikaner würden sich nicht bewegen. Möglicherweise gibt es aber inoffiziell noch Kontakte in Katar über die dortige Vertretung der Taliban. Vor wenigen Tagen jedenfalls sagte der stellvertretende US-Botschafter in Kabul, man sei grundsätzlich weiter bereit, mit den Taliban zu reden. Im Grunde verhalten sich Taliban und Amerikaner ganz ähnlich, indem sie sagen, man kann gleichzeitig kämpfen und verhandeln. Was die Auftstandsbewegung insgesamt betrifft, ist übrigens gerade eine Delegation der Hezb-e-Islami, der Islamischen Partei des Warlords Gulbuddin Hekmatjar, zu Gesprächen mit dem Hohen Friedensrat in Kabul.

Dem Hohen Friedensrat steht seit kurzem Salahuddin Rabbani vor. Er folgt seinem 2011 ermordeten Vater und Ex-Präsidenten, Burhanuddin Rabbani, nach. Was qualifiziert ihn für das Amt?

Eine afghanische Zeitung schrieb dieser Tage, politische Positionen seien Erbposten. Das trifft es ziemlich genau. Wir haben aus Kreisen des Hohen Friedensrates gehört – der Salahuddin jetzt mehrheitlich gewählt haben soll –, dass eigentlich zwei Drittel gegen ihn waren. Schon die Ernennung von Rabbani senior war ein politischer Schachzug. Präsident Hamid Karsai versuchte damals, die politische Opposition zu spalten. Deshalb dürfte er sich jetzt auch für Rabbani junior entschieden haben.

Karsai selbst denkt darüber nach, die Präsidentschaftswahl statt 2014, wenn die internationalen Kampftruppen abziehen, besser 2013 stattfinden zu lassen. Was steckt für eine Absicht dahinter?

Karsai will für seinen Nachfolger legitime Wahlen mit entsprechend hoher Wahlbeteiligung. Und je mehr westliche Truppen noch im Land sind, umso eher lässt sich die Sicherheit der Wähler gewährleisten. Afghanistans Verfassung wiederum sieht eine fünfjährige Präsidentschaft vor, sagt aber nichts über den Fall eines vorzeitigen Rücktritts aus. Afghanische Analysten warnen deshalb jetzt vor einem Verfassungsbruch, sollte die Amtszeit ohne triftige Gründe vorzeitig beendet werden. Logistisch und technisch machen Karsais Überlegungen durchaus Sinn, politisch und rechtsstaatlich sind sie aber fragwürdig.

Strebt Karsai ein „Modell Putin“ an, also eine erneute Präsidentschaft nach einer kurzen Pause?

Die Verfassung sieht das nicht vor. Da Mitglieder der Familie Karsai bereits ihre Kandidatur andeuten, muss Hamid Karsai aber gar nicht unbedingt selbst wieder Präsident werden.

Gibt es bereits aussichtsreiche Kandidaten für das Amt?

Darüber zu spekulieren wäre zu früh und auch ungeschickt. Die Afghanen befürchten dann, dass der Westen wieder seinen eigenen Favoriten platzieren will. Bisher haben nur zwei Personen gesagt, dass sie kandidieren wollen: Ex-Innenminister Ali Dschalali, der die afghanisch-amerikanische Doppelstaatsbürgerschaft hat, und eine Parlamentarierin aus Nordafghanistan, Fawzia Koofi. Sie präsentiert sich als Frauenrechtlerin, ist modern ausgebildet, spricht gut Englisch, hat aber einen, zumindest lokal bekannten, komplizierten politischen Hintergrund. Einige ihrer Familienmitglieder sollen in den Drogenhandel verstrickt sein.

Thomas Ruttig

ist Ko-Direktor

des Thinktanks

Afghanistan Analysts Network (AAN) in Kabul. Mit ihm sprach Ruth Ciesinger

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