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Gesicht ohne Namen. Das Foto der Frau, die im Mittelmeer vor Sizilien ertrank, stammt von ihrem geborgenen Handy.

© privat, Mauritius/Montage: TSP

Die Tote aus dem Mittelmeer: Nr. 13

Als sie starb, trug sie schwarz. Ein Oberteil mit langen Ärmeln, darunter ein kurzes Top. Schwarze Jeans über schwarzen Leggins. Die dunklen, halblangen Haare hatte sie heller gefärbt. Ihre Socken waren bunt. Als sie starb, war sie zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Das ist alles, was man von ihr weiß.

Warum die Frau an einem Tag im August in der Nähe der libyschen Stadt Zuwara auf ein Boot stieg, warum sie floh, weiß man nicht. Auch nicht, woher sie kam. Eritrea vermutlich, aber sicher ist das nicht.

Die Fakten sind: Am 24. August 2014, in der Nacht von Sonntag auf Montag, kentert ein 15 Meter langes, hellblaues Boot in der Straße von Sizilien, der Meerenge zwischen Afrika und Europa. Italienische Militärschiffe retten die Überlebenden und bergen die Leichen. Es ist der dritte Schiffbruch an diesem Wochenende. Die „Fenice“ bringt die Toten, insgesamt 24, in den Hafen der sizilianischen Stadt Augusta.

Es gibt ein Video von der Landung. Ein Lastwagen bringt die Särge, Beamte von der Spurensicherung, in Atemmasken und weißen Schutzanzügen, tragen sie auf das Schiff. Die Carabinieri und das Rote Kreuz kümmern sich um die Überlebenden. Sie machen Notizen, zum Beispiel von einer Frau aus Eritrea, die verzweifelt ihre Schwester sucht. Hinter einer Plane, die Polizisten als Sichtschutz hochhalten, werden die Toten in die Särge gelegt. Fotos werden gemacht. Jede Leiche bekommt eine Nummer. „Cadavere #13“, schreiben sie in die Akte der Frau in Schwarz.

85 Prozent aller Ertrunkenen werden vor Sizilien geborgen

Die Toten ohne Namen landen zwei Tage später auf dem Schreibtisch des Polizisten Angelo Milazzo in der benachbarten Stadt Siracusa. Vierzehn Männer, sechs Frauen und vier Kinder. Ohne Identität. Milazzo soll sie ihnen zurückgeben.

Milazzo ist bei der Polizei von Siracusa Experte für Flüchtlingsfragen. Er ist Mitglied einer Einheit, die gegen Schleuser ermittelt. Wie gefährlich die Flucht über das Meer ist, weiß er genau. In den vergangenen drei Jahren starben mehr als zehntausend Flüchtlinge beim Versuch, Europa über das Wasser zu erreichen. Die gefährlichste Fluchtroute ist die „Central Med“ von Libyen nach Lampedusa und Sizilien. 85 Prozent aller Ertrunkenen werden hier geborgen, auf einer Strecke, ungefähr so lang wie die Entfernung von München nach Köln.

Die meisten, die bei der Überfahrt sterben, können nicht identifiziert werden. Sie werden zu Zahlen in einer Statistik, die ihren Schrecken aus der Masse, nicht den Schicksalen zieht. Im Rest Europas verschwinden die Toten in den Kurzmeldungen, werden zu Variablen einer Krisenkalkulation. In Sizilien ist die Katastrophe nah. Angelo Milazzo ist einer von denen, die sich ihr stellen, die versuchen, die Menschen hinter den Zahlen wiederzufinden.

Der Polizist Angelo Milazzo versucht, ertrunkene Geflüchtete zu identifizieren.
Der Polizist Angelo Milazzo versucht, ertrunkene Geflüchtete zu identifizieren.

© Carlos Bafile

Von seinem Büro aus kann Milazzo das Meer nicht sehen. Der Palazzo di Giustizia von Siracusa liegt hinter einem schweren Eisenzaun im Norden der Stadt, der Blick aus dem Fenster fällt auf Wohnblöcke und verdorrte Grundstücke.

Milazzo ist Hauptkommissar bei der Polizei von Siracusa, ein kompakter Mann mit großem Bauch. Seine Lippen hat der 57-Jährige meist ein wenig zusammengekniffen. Er lächelt selten, als müsse er sich das Glücklichsein einteilen. Sein Büro im fünften Stock sieht aus, als sei es über die Jahre zugewachsen. Aktenschränke zwängen sich zwischen Schreibtischen, zusammengestückelt aus verschiedenen Jahrzehnten. An der Wand hängt ein gerahmtes Poster, das italienische Kriegsschiffe zeigt - die gleichen, die Flüchtlingsboote vor Sizilien bergen. Seine kugelsichere Weste hängt an einem Kleiderbügel in der Ecke, unter einer Plastikhülle, vor längerer Zeit gereinigt und seitdem nicht mehr gebraucht.

Hinter Milazzos Schreibtisch stapeln sich Ordner. Darin lagern die Akten der Opfer vom 24. August 2014. Auch die Akte der Frau in Schwarz liegt in dem Stapel, „Vittima #13“ steht in schwarzem Edding darauf, Opfer 13. Mit ihr beschäftigt Milazzo sich seit mehr als zwei Jahren.

Die Leichen selbst sieht er nie. Stattdessen bekommt er die Fotos, die von der Spurensicherung am Hafen gemacht wurden. Er zeigt die Bilder auf seinem Computer. Langsam, die Augen starr auf den Bildschirm gerichtet, scrollt er sich nach unten, dabei kaut er ein Minzbonbon nach dem anderen. Die Gesichter der Toten sind aufgequollen, viele Bauchdecken durch Hitze und Verwesung geplatzt. Milazzo öffnet den Ordner Nummer 13. Auf den Fotos stehen Menschen in Atemmasken hinter einem dunkel verfärbten Körper, der sich unter schwarzer Kleidung spannt. Dass ihm die Fotos allein nicht weiterhelfen können, merkt er sofort. Zwei Tage in Leichensäcken auf dem Schiff machen jede Identifizierung unmöglich.

Todesursachen: ertrunken, erstickt, erdrückt

Die Obduktionsberichte liest Milazzo zuerst. Seit Beginn der Flüchtlingskrise arbeiten die Forensiker der Insel im Akkord. Auch Antonella Argo, Gerichtsmedizinerin an der Poliklinik Palermo, obduziert seit einigen Jahren fast nur noch Menschen, die bei der Flucht über das Mittelmeer gestorben sind. Argo steht in einem Labor im Keller der Poliklinik, um sie herum stapeln sich Kartons voller Gewebeproben, in der Ecke steht ein Kühlschrank, auf den jemand mit Filzstift „Migranti“ geschrieben hat. Darin: Blut- und Organproben. Die Toten aus dem Mittelmeer, sagt die Ärztin, hätten alles verändert.

Alle Informationen, die Milazzo über „Opfer #13“ hat, sind in einer orangefarbenen Aktenmappe gesammelt.
Alle Informationen, die Milazzo über „Opfer #13“ hat, sind in einer orangefarbenen Aktenmappe gesammelt.

© Carlos Bafile

In den ersten 22 Jahren ihrer Karriere hat Argo 300 Tote obduziert. Damals, erzählt sie, habe es pro Jahr ein paar Unfälle oder Morde gegeben. Das schlimmste waren Flugzeugabstürze, außergewöhnliche Umstände. Heute müssen Argo und ihr Team oft so viele Tote obduzieren, dass die Gerichtsmedizin zu klein ist, um alle aufzunehmen. Dann lassen die Forensiker Friedhöfe sperren und arbeiten unter freiem Himmel. Wie viele Leichen sie seit 2011 untersucht hat, weiß Argo nicht auf Anhieb. Sie rechnet im Kopf nach, dann lacht sie müde. „Werden wohl so 200 gewesen sein.“ Ihre Assistentin Antonetta Lanzarone hatte in dieser Zeit ebensoviele Tote auf dem Tisch. Die Katastrophe ist Alltag geworden.

Es geht den Ärzten sowohl darum, die Todesursache festzustellen, als auch darum, die Identität der Toten herauszufinden. Die Todesursachen sind meistens gleich: ertrunken, erstickt, erdrückt. Die Identität: meist unbekannt.

Antonella Argo zeigt auf einen Tisch in dem niedrigen Kellerraum. Auf ihm liegen in einer Aluschale nummerierte Plastiktütchen. In ihnen menschliche Knochen, je ein Handgelenk und ein Stück vom Oberschenkelknochen. 52 Tüten für 52 Tote. „Die müssen wir alle noch auf ihr Alter testen“, sagt Argo. Ob es am Ende helfen wird, herauszufinden, wer die Menschen waren, weiß sie nicht. „Wir sammeln so viele Informationen wie möglich.“

Für eine Identifizierung müssen die nach dem Tod gewonnenen Informationen mit Proben verglichen werden, die aus dem Leben der Toten stammen. Post Mortem und Ante Mortem nennt man das. Wenn Menschen beim Absturz eines Linienflugzeugs sterben, lassen sich Verwandte über Passagierlisten ausfindig machen. Die werden für einen DNA-Test eingeladen oder schicken Proben ihrer Angehörigen. Zahnbürsten oder Haarlocken zum Beispiel.

Flüchtlingsboote haben keine Passagierlisten. Außerdem kommen viele der Toten aus Ländern, in denen man nicht einfach Verwandte anrufen kann. Im vergangenen Jahr wollten Forensiker die Toten eines Schiffsunglücks vor Lampedusa 2013 identifizieren, mehr als 350 Menschen starben damals. Die Ärzte baten die Verwandten vermisster Flüchtlinge, nach Italien zu kommen. Rund siebzig kamen - aus Frankreich, Deutschland, der Schweiz, sie konnten 28 Opfern einen Namen geben. Aus Syrien oder Eritrea kam niemand.

Auf dem Friedhof von Catania, hier die Aussegnungshalle, liegen mehr als 100 Geflüchtete begraben.
Auf dem Friedhof von Catania, hier die Aussegnungshalle, liegen mehr als 100 Geflüchtete begraben.

© Carlos Bafile

Vier Tage, nach der Havarie, bei der die Frau in Schwarz ums Leben kam, besucht Milazzo die Überlebenden im Auffanglager. 352 Menschen konnte die Marine aus dem Wasser retten, sie kommen aus 13 verschiedenen Ländern, unter anderem Syrien und Eritrea. Vielleicht hat jemand die Toten gekannt? Milazzo liest die Steckbriefe vor, die die Gerichtsmedizin ausgefüllt hat. Größe, Alter, Kleidungsstücke, Narben. Dolmetscher übersetzen, Milazzo spricht nur Italienisch. Drei Stunden dauert es, bis er alle Steckbriefe vorgelesen hat. Doch viel Erfolg hat er nicht. Viele der Geretteten sind schon weitergezogen, haben sich auf den Weg nach Nordeuropa gemacht. Am Ende kann Milazzo nur drei der 24 Toten identifizieren.

Wenige Tage nach der Obduktion findet im Krankenhaus eine Trauerfeier statt. Priester, Imam, einige Polizisten und Journalisten. Nur wenige Minuten dauert die Andacht, dann werden die Toten auf Friedhöfen der Umgebung begraben, je nachdem, wo gerade Platz ist.

Wo ist die Schwester der Toten?

Auf dem Friedhof von Catania kennzeichnen nummerierte Metallschilder die Flüchtlingsgräber.
Auf dem Friedhof von Catania kennzeichnen nummerierte Metallschilder die Flüchtlingsgräber.

© Carlos Bafile

Die Ankunft der Flüchtlinge verändert die Ordnung auf den Friedhöfen Siziliens. Der Friedhof des nahe gelegenen Catania ist so groß wie ein Stadtviertel. An breiten, geteerten Wegen reihen sich blumenüberschüttete Gräber, darüber wachen Heiligenstatuen. Wer es sich leisten kann, baut seiner Familie hier ein Mausoleum, so groß wie ein kleines Einfamilienhaus. Mitarbeiter von Unternehmen werden in firmeneigenen Gräbern beerdigt, Gebäude wie Wohnblöcke, über deren Eingängen die Namen der ehemaligen Arbeitgeber stehen.

Die Flüchtlingsgräber liegen am hintersten Ende des Geländes, auf einer sonnenverbrannten Wiese hinter den Firmenmausoleen. In langen Reihen ragen Grabhügel aus der Erde, daneben Äste und Zweige von Bäumen und Sträuchern. Auf einigen der Hügel wuchert Unkraut, andere scheinen erst vor kurzem aufgehäuft zu sein. In den meisten, das zeigen kleine Messingschilder, liegen drei Särge übereinander. Insgesamt sind über hundert Flüchtlinge in Catania begraben. Einen Grabstein mit Namen hat nur eine der Toten. Alle anderen sind Nummern - PM 3900 06, PM 3900 07, CT 24, CT 23, CT 22. Was sie bedeuten, weiß der Friedhofsarbeiter nicht, der am Rand der Wiese steht. Die Schilder seien von der Stadt geliefert worden, er habe sie lediglich in die Erde gesteckt. Ob jemand die Gräber besuche? Bisher seien nur Journalisten gekommen.

er in diesem Sommer durch sizilianische Städte geht, bekommt vom großen Sterben vor der Küste nichts mit. Die Anonymität steht im Kontrast zur öffentlichen Trauer, mit der man sonst auf Sizilien der Toten gedenkt. Wenn ein Sizilianer stirbt, geht das alle etwas an. An einem Haus in Catania, in dem vor kurzem ein junger Mann verstorben ist, haben seine Verwandten ein Banner von der Größe eines Bettlakens angebracht. Lasergedruckt lächelt der Verstorbene in die Straße, in der er früher lebte. Immer wieder kommt man an den „annunci funebri“ vorbei, Anschlagtafeln mit den Todesanzeigen der Gemeinde. Foto, Name, Sterbedatum, und das ewige Licht leuchte ihnen. Darunter stehen die Namen der Trauernden: Eltern, Geschwister, Kinder. Zur Beerdigung kommen auf Sizilien selbst entfernte Bekannte. Trauern ist Gemeinschaftsdienst.

Manche Speicherkarten hat das Meerwasser nicht zerstört

Es kommen immer neue Menschen an, ständig gibt es neue Fälle für die Anti-Schleuser-Einheit. Anfangs arbeitet Milazzo in Vollzeit an der Identifizierung seiner Toten - doch nur für wenige Tage. Dann wird er abgezogen. Doch Milazzo lässt das Schicksal der Menschen nicht los. Er arbeitet weiter, nach Feierabend. Manchmal schläft er nachts nur eine Stunde.

In Palermo versuchen Gerichtsmediziner anhand von Knochenuntersuchungen, das Alter der Toten herauszufinden.
In Palermo versuchen Gerichtsmediziner anhand von Knochenuntersuchungen, das Alter der Toten herauszufinden.

© Carlos Bafile

Er findet heraus, dass auch die Marine Fotos gemacht hat, gleich nach der Bergung der Ertrunkenen. Er öffnet einen anderen Ordner auf seinem Computer, beginnt wieder, durch Bilder zu scrollen. Diesmal sind die Gesichter der Menschen bleich, umrahmt vom Grün der Leichensäcke. Milazzo biegt eine Büroklammer zwischen seinen Fingern. Auf einem Foto blickt eine Frau mit weit aufgerissenen, leeren Augen in die Kamera. Sie hat Schaum vor dem Mund, der Sack fällt um ihr Gesicht wie ein Kopftuch.

Er biegt das Ende der Klammer nach oben, dreht sie zwischen seinen Fingern. Ein anderes zeigt einen Leichensack, in dem zwei Menschen liegen: Ein Mann, ausgestreckt, auf seiner Schulter ein Baby. Milazzo biegt die Klammer wieder nach unten. Die Fotos der Marine erinnern an Heiligenbilder, die man in Sizilien überall am Straßenrand sieht: Madonna im Gebet, Christophorus mit dem Jesuskind auf der Schulter. Nur kurz zeigt Milazzo die Fotos. „Man darf nicht im Bild drinbleiben“, sagt er. Die Büroklammer bleibt verbogen auf dem Tisch liegen.

Er selbst sieht sich die Toten fast täglich an. Er durchsucht das Internet nach Vermisstenanzeigen, beobachtet Facebook-Feeds und Nachrichtenseiten aus Syrien, Libyen und Tunesien. Auf einer syrischen Internetseite findet er eine Liste mit 109 Vermissten. Er schickt Fragebögen an Menschen, die suchen und erhält 170 Antworten, mit Bildern und Namen. Er lässt sich von der Polizei die Handys der Toten geben. Manche Speicherkarten hat das Meerwasser nicht zerstört. Milazzo durchsucht sie und findet, was man auf Handys immer findet: Fotos.

Er öffnet einen Ordner auf seinem Desktop. Auch die Frau in Schwarz hatte Bilder gemacht und sie auf ihrem Nokia gespeichert. Das erste zeigt sie in einem Wohnzimmer. Unter einem roten Kopftuch schaut sie schräg nach oben in die Kamera, Selfiepose, ernster Blick. Ein anderes zeigt sie mit Freunden, fünf Frauen mit Kopftüchern und drei Männer lächeln den Fotografen an. Milazzo untersucht die Fotos auf Hinweise, vergleicht sie mit den Bildern, die ihm die Marine gegeben hat.

Antonetta Lanzarone ist Assistenzärztin am gerichtsmedizinischen Institut von Palermo. In den letzten fünf Jahren hat sie mehr als 200 tote Geflüchtete obduziert.
Antonetta Lanzarone ist Assistenzärztin am gerichtsmedizinischen Institut von Palermo.In den letzten fünf Jahren hat sie mehr als 200 tote Geflüchtete obduziert.

© Carlos Bafile

Er liest die Sim-Karten der Handys aus und ruft die zuletzt gewählten Nummern an. Auf Listen hat er zusammengefasst, was dabei herauskam - erreicht, belegt, Leitung tot. Die Liste der Toten #13 füllt mehr als eine Seite.

Er erstellt ein Facebook-Profil, mit dem hellblauen Boot als Coverfoto. Dort stellt er Ausschnitte von Fotos online, Details wie Kleidungsstücke und Schmuck. Er lernt einige Brocken Arabisch, um nach den Vermissten fragen zu können: Wer kennt jemanden mit einer Narbe am rechten Arm oder an der rechten Schulter? Wer kennt die Person, die dieses grün gestreifte Shirt trug? Bitte per Privatnachricht kontaktieren. Mehr als fünfhundert Menschen folgen der Seite.

Am Anfang hatte er eine Spur

Seinen Abschlussbericht schreibt Angelo Milazzo im November 2015. Er hat mehr als 3000 Überstunden gemacht. Ob es sich gelohnt hat? Er lächelt, zum ersten Mal an diesem Tag, nimmt sein Handy aus der Tasche und wischt durch einen Whatsapp-Chat. Bilder von bunten Blumen reihen sich aneinander. Jede Woche bekomme er die, von einem syrischen Anwalt, dem Bruder eines der Toten, die er identifiziert hat. Darunter steht, auf Arabisch: Danke.

Eigentlich aber sei es bei seiner Arbeit um mehr gegangen. „Die Namen zu suchen, ist ein Akt der Menschlichkeit“, sagt er.

Ohne die Gewissheit, was aus ihren Verwandten geworden ist, können die Familien in den Heimatländern nicht um sie trauern. Frauen brauchen den Totenschein ihres Mannes, um wieder heiraten zu dürfen. Milazzo nennt die fehlende Identität der Toten „Limbus“. Dante Alighieri benutzt das Wort in der „Göttlichen Komödie“ als Namen für die Vorhölle, den Ort für die Seelen, die weder im Himmel noch in der Unterwelt ihren Platz finden. Der erste Kreis der Hölle ist die Ungewissheit.

Was Milazzo nicht sagt: Wenn er vom „Limbus“ spricht, meint er auch seine eigene Ungewissheit.

Die Forensiker nehmen Gewebeproben, in den Laboren stapeln sich die Objektträger.
Die Forensiker nehmen Gewebeproben, in den Laboren stapeln sich die Objektträger.

© Carlos Bafile

Am Ende hatte er 21 der 24 Toten zweifelsfrei identifiziert. 19 von ihnen kommen aus Syrien, je einer aus Marokko und Ägypten. Auf ihren Ordnern stehen heute Namen, bei zwei weiteren wartet er nur noch auf den DNS-Vergleich.

Wer die Frau in Schwarz ist, weiß er immer noch nicht. Auf ihrer Akte, immer noch: „Vittima #13“. Dabei hatte er schon ganz zu Anfang eine Spur. Auf dem Gruppenfoto mit den lächelnden Frauen erkannte Milazzo die Eritreerin, die am Tag, als das Schiff mit den Toten am Hafen von Augusta anlegte, verzweifelt nach ihrer Schwester gesucht hatte. Ihren Namen kennt er nicht, nur ihre Nummer: „Überlebende 224“.

Als er versuchte, sie im Auffanglager zu treffen, war sie verschwunden. „Wohl nach Norden weitergezogen“, sagte man ihm. Auf dem Nokia von #13 fand er auch eine deutsche Nummer. Milazzo rief an. Kurzes Tuten, dann: „Die gewählte Rufnummer ist nicht vergeben“.

Wenige Wochen, nachdem Angelo Milazzo seine Geschichte erzählt hat, landet ein Schiff im Hafen von Siracusa. An Bord sind sieben Tote. Es ist der 8. September 2016. Seit Milazzo vor neun Monaten seinen Abschlussbericht geschrieben hat, sind mehr als 3000 Menschen im Mittelmeer gestorben. Die meisten von ihnen sind nicht identifiziert.

Dieser Text ist gedruckt in unserem Magazin "Tagesspiegel Berliner" erschienen, das Sie hier kostenlos online lesen und herunterladen können.

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