zum Hauptinhalt
Menschen in Istanbul legen Blumen nieder.

© dpa

Die Türkei und der Terrorismus: Ein Land in Schockstarre

Der Terror ist im türkischen Alltag angekommen. Das Vertrauen in den Staat ist erschüttert. Ein Bericht aus einem verunsicherten Land.

Am Samstagabend brennt normalerweise die Luft auf der Istiklalstraße, der aufregendsten Fußgängerzone Europas. Unter den Lichterketten bummeln Familien, Touristengruppen und Scharen von schwatzenden Jugendlichen so dicht gedrängt, dass alle Schulter an Schulter gehen. In Seitengassen fiedeln Stehgeiger über voll besetzten Tischen, in anderen dröhnt Live-Musik aus einem Dutzend Kneipen zugleich. So war es bisher in Istanbul, aber so ist es nun nicht mehr. Still und dunkel blieb die Istiklalstraße an diesem Wochenende, geisterhaft still sind auch die anderen Straßen und Plätze der sonst so quirligen Metropolen.

„Ich mache heute gar nicht erst auf“, sagt der Manager einer hundert Meter vom Explosionsort an der Istiklalstraße gelegenen Kneipe, der überhaupt nur gekommen ist, um zu sehen, ob seine Bar noch Fenster hat. Die für den Abend engagierte Band aus Europa hatte er schon vor dem neuesten Anschlag abgesagt, denn die Kundschaft bleibt bereits seit den Anschlägen von Ankara aus: Zum Vergnügen geht niemand mehr aus in den Metropolen der Türkei. Auch in der benachbarten Nevizade-Gasse, die sonst allabendlich tausende vergnügte Zecher abfüttert, blieben die meisten Lokale an diesem Wochenende deshalb geschlossen. Statt dessen marschieren die Lokal- und Ladeninhaber mit Nelken und Protestschildern zum Anschlagsort. „Wir werden uns nicht daran gewöhnen“, stand auf den Plakaten.

Arrangieren müssen sich die Türken in ihrem Alltag aber mit dem Terror, der plötzlich allgegenwärtig geworden ist in ihrem Leben: Auf der Istiklalstraße, wo jetzt ein islamistischer Attentäter seine Bombe zündete. Auf dem zentralen Kizilay-Platz von Ankara, wo eine kurdische Gruppe vergangenen Woche 37 Menschen in den Tod sprengte. Auf der Stadtautobahn von Istanbul, wo linksextremistische Terroristen kürzlich mitten im Berufsverkehr ein Polizeifahrzeug ins Kreuzfeuer nahmen. Auf der Brücke über den Bosporus, wo ein ohne Sprit liegengebliebenes Auto vergangene Woche eine Panik verursachte, die den Verkehr der 17-Millionen-Metropole für Stunden lahmlegte.

Jeden kann es treffen, das ist die Botschaft der Anschläge, die sich nicht mehr gegen staatliche Einrichtungen und Sicherheitskräfte richteten, sondern gegen alle – Bürger und Besucher. Die Botschaft ist angekommen. „Man traut sich ja nicht mehr aus dem Haus“, jammert eine türkische Hausfrau. Vor allem vor den öffentlichen Verkehrsmitteln geht die Angst um, seit die Attentäter von Ankara eine Autobombe in einen voll besetzten Bus rammten. „Wir überlegen, ob wir umziehen sollen, damit mein Mann nicht mehr mit dem Bus fahren muss“, sagt eine Lehrerin. Wer kann, geht zu Fuß zur Arbeit oder fährt Umwege, um die offensichtlichsten Anschlagsziele zu vermeiden. Ein Gefühl der Hilflosigkeit breitet sich aus. „Ich weiß einfach nicht mehr, was wir machen sollen“, sagt ein Unternehmer.

Durchhalteparolen der Behörden

Verstärkt wird die Verunsicherung vieler Türken durch das Gefühl, dass ihre eigene Regierung nicht mit offenen Karten spielt und sie aus taktischen Erwägungen an die Terroristen verheizt. Mit Durchhalteparolen beschwören die Behörden die Bürger, dem Staat zu vertrauen, dem Terror nicht zu weichen und unbeirrt ihrem Alltag nachzugehen – obwohl längst überdeutlich geworden ist, dass der Staat sie nicht schützen kann. „Glaubt es nicht“, beschwor der Gouverneur von Istanbul die Bevölkerung, als die deutschen Behörden nach einer Terrorwarnung vergangene Woche die deutsche Schule und das Konsulat schlossen. „Deutsche Terrorlüge“ und „Deutsche Panikmache“ titelte die regierungsnahe Presse, und das Erziehungsministerium kündigte ein Disziplinarverfahren gegen die deutsche Schule an.

„Unser Staat ist mit seinen tausenden Jahren Erfahrung und seinen Institutionen fähig und entschlossen, mit allen Widrigkeiten fertig zu werden“, hieß es in der Erklärung des Gouverneurs zu der deutschen Warnung. „Wir rufen unser Volk auf, nur offiziellen Verlautbarungen zu folgen und reißerischen, unseriösen Nachrichten und Gerüchten aus zweifelhaften und unseriösen Quellen nicht zu glauben.“ Das Volk glaubte dennoch lieber den Deutschen und blieb zuhause – neben dem Nieselregen ein Grund dafür, dass auf der Istiklalstraße am Samstagvormittag nur vereinzelte Fußgänger unterwegs waren, als die Bombe zündete.

Mit dem Hashtag #DankeSchönDeutschland bedankten sich viele Türken nach dem Anschlag per Twitter für die Warnung. Das türkische Satireportal „Zaytung“ illustrierte die Stimmung mit einem fiktiven Interview mit einem türkischen Geheimdienstfunktionär. „Wir empfehlen den Bürgern zu ihrer Sicherheit, am besten immer das zu tun, was ihre deutschen Bekannten tun“, erklärt der fiktive Geheimdienstler darin.

Der Gouverneur von Istanbul erklärte ungerührt, der Anschlag von der Istiklalstraße habe nichts mit der deutschen Warnung zu tun gehabt. Seine Versicherungen konnten auch am Sonntag kaum jemanden auf die Straße locken, denn das Vertrauen der Türken in ihre Behörden ist tief erschüttert.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false